Als Restauratorin für Buch und Papier kennt Stephanie Preuss die Schäden, die an schriftlichem Kulturgut auftreten können, bis ins Detail. Seit 2014 leitet sie das Referat Bestandserhaltung an der Deutschen Nationalbibliothek (DNB). Wir haben sie gefragt, wie man langfristige Strategien für den Originalerhalt entwickelt und welche Rolle die Digitalisierung spielt. 

KEK: Als Referatsleiterin Bestandserhaltung an der DNB müssen Sie eine große Menge an Schriftgut im Auge haben. Wie sieht Ihr Arbeitsalltag aus?

Stephanie Preuss: Wir haben insgesamt momentan ca. 400 km Bestand, an beiden Standorten. Da stellt sich die Frage, wie man den Überblick über den Zustand aller Bestände haben kann und Maßnahmen plant. Tatsächlich ist es selten so, dass ich mich um ein konkretes Objekt kümmere. Es geht fast immer um Bestände bzw. Bestandsgruppen. Als Referatsleiterin habe ich neben der Personalführung standortübergreifend viele Themen im Blick, interne wie externe Projekte, die auch nicht immer auf den ersten Blick mit Bestandserhaltung zu tun haben. Dazu gehören z.B. Digitalisierungsmaßnahmen oder Erwerbungsfragen, aber auch Fragen zur Ausstellung, präventive Maßnahmen der Bestandserhaltung sowie Gremienarbeit national und international. Dabei geht es weniger um Details als um übergeordnete und strategische Fragen. Wie kann ein Bestand digitalisiert werden, ohne dass Schäden auftreten? Wie verbessern wir Lagerungsbedingungen in historischen Magazinen? Welche Entwicklungen gibt es international zum Thema nachhaltige Lagerung von Bibliotheksgut? Es geht also um Fragestellungen der präventiven Bestandserhaltung, denn das ist unser strategischer Schwerpunkt. Oft sitze ich (momentan virtuell) mit den Kolleg·innen aus den unterschiedlichen Abteilungen und meinem Referat zusammen, um gemeinsam Geschäftsgänge, Strategien und Grundsatzfragen zu klären. Das ist sehr spannend, weil man viel in Prozessen denken muss. Kurzum: Ich sitze mehr im Büro und arbeite an Konzeptpapieren oder in Sitzungen, mache also Bestandserhaltung am Schreibtisch.

Zum besseren Monitoring wurde nun eine spezielle App entwickelt. Wie genau funktioniert sie?

App-Screen
© Deutsche Nationalbibliothek

Die App hat zwei Komponenten: eine Erfassungskomponente, die als App auf einem Tablet-PC läuft, und eine Auswertungskomponente, die man via Webbrowser vom PC aus aufrufen kann. Mit der App wird die eigentliche Erfassung gemacht. Die Idee war, ein Tool zu haben, das einfach und schnell in der Handhabung ist und den Mitarbeiter·innen auch Spaß macht. Fast jede·r ist es ja gewohnt, mit dem Smartphone oder dem Tablet umzugehen. Beim Öffnen der App kommt man zunächst in eine Kartenansicht und kann das entsprechende Magazin als Karte aufrufen. Aus der Vogelperspektive hat man die Möglichkeit, Regale einzufügen und das Magazin quasi zu bauen. Diese Funktion benötigen wir, weil öfter etwas in den Räumen verändert wird und wir das anpassen müssen. Wir können in den Regalen den Medientyp festlegen (z.B. eine Monografie) und die darin enthaltenen Signaturen. Die Regale färben sich dann unterschiedlich ein, je nach Medientyp. So können wir auf den ersten Blick sehen, welche Materialien ein Magazin enthält, z. B. CDs oder Bücher. Ist die Magazinkarte fertig erstellt, kann mit der Erfassung begonnen werden. Beim Klick auf den entsprechenden Button erscheinen die Stichprobenpunkte als graue Punkte auf der Karte im Regal. Die Stichprobe wird von einem Algorithmus zufällig erstellt. Ihre Genauigkeit können wir je nach Bedarf variieren. Der·die Mitarbeiter·in bewertet jeden einzelnen Stichprobenpunkt am Regal nach einer von uns vorgegebenen Schadenskategorie. Dabei werden die Punkte nach einem Ampelsystem eingefärbt (grün: kein Schaden, rot: erheblicher Schaden). Dadurch sehen wir auf den ersten Blick, ohne komplizierte Analysen, ob in einem Magazin Probleme auftauchen. In der Karte können noch weitere Symbole hinterlegt werden, wie Notfallboxen und Insektenfallen. Außerdem haben wir Datenlogger, die ebenfalls in der Karte platziert werden können und die via Bluetooth Klimadaten senden. So können wir eventuelle Schäden durch Klimaschwankungen schnell detektieren. Die Auswertungskomponente zeigt eine Übersicht über alle kartierten Magazine inklusive der Ampelmeldungen, die man filtern kann. So können wir am Computer sehen, ob es irgendwo ein Problem gibt. Außerdem haben wir die Möglichkeit, über eine Zeitleiste unterschiedliche Stichproben anzusehen, z. B. vor- und nach einer Schadensbehebung. Die Daten können von dort in andere Datentools wie Excel übertragen werden.

Können Sie sich vorstellen, dass die App schon bald in Einrichtungen bundesweit eingesetzt wird?

Unser Justiziariat prüft gerade, inwieweit wir die App zumindest in ihren Grundfunktionen für andere Institutionen nutzbar machen können bzw. dürfen. Das ist ein längerer Prozess, da viele Details beachtet werden müssen. Momentan passen wir die App im Design an, damit die Bedienung des Systems noch intuitiver wird. Auch könnte in einem Projekt gemeinsam mit anderen Einrichtungen überlegt werden, was es braucht, um ein Zustandserfassungssystem zu entwickeln, das Basisfunktionen abdeckt und auch für kleinere Einrichtungen sinnvoll ist. Unsere App ist auf einen sehr großen Bestand ausgelegt und eher ein Management-Tool, aber das wird in dieser Dimension vielleicht nicht immer benötigt.  

Die Zukunft wird immer stärker in der Digitalisierung gesehen. Wie kann sie mit dem Originalerhalt zusammengedacht werden?   

App-Screen
© Deutsche Nationalbibliothek

Wir haben in der DNB momentan sehr große Digitalisierungsprojekte – an beiden Standorten wird ein Großteil unseres Monografiebestands digitalisiert. Nebenbei werden besonders beschädigte Medien digitalisiert. Außerdem laufen weitere Projekte sowohl im Deutschen Exilarchiv 1933–1945 als auch im Deutschen Buch- und Schriftmuseum, die ganz eigene Bestände mit individuellen Anforderungen haben. Das stellt uns in der Bestandserhaltung natürlich vor Herausforderungen, deshalb entwickeln wir für Digitalisierungsvorgänge Geschäftsgänge und Workflows, um bestandserhaltende Aspekte zu integrieren. Die Prävention von Schäden ist dabei immer der Fokus. Wir nutzen die App z. B. zur Zustandserfassung und zur Einschätzung der Digitalisierbarkeit der Bestände. Gleichzeitig sind wir in der Lage, diese Bestandsgruppen konservatorisch entweder im Vorfeld oder im Nachgang einer Maßnahme zu bearbeiten. Das ist ein Vorteil für die Bestände, da wir sie nicht mehrmals anfassen müssen und gleichzeitig verhindern, dass Schäden durch die Digitalisierung entstehen. So können mehrere Maßnahmen miteinander gekoppelt werden. Bestandserhaltung ist eine eigenständige und gleichberechtigte Aufgabe neben Digitalisierungsmaßnahmen. Am Ende ergeben sich Synergieeffekte für alle Bereiche. Die Bestandserhaltung muss Start- und Endpunkt einer Digitalisierungsmaßnahme sein, denn so lassen sich am besten Originalerhalt und Informationssicherung vereinen. Wir haben unsere Geschäftsgänge so aufgebaut, dass wir im Vorfeld, während und nach einer Maßnahme entsprechend involviert sind. Ein konkretes Beispiel eines sehr schönen Projekts ist die Zustandserfassung und konservatorische Sicherung der historischen Buchsammlungen der DNB für die Digitalisierung, die von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien gefördert wird. Dieser Buchbestand ist besonders für die Digitalisierung eine Herausforderung, weil dort prachtvolle Bucheinbände, Buchmalereien und besondere Bindungen vorkommen. Auch hier haben wir im Vorfeld sehr genau geschaut, welche Maßnahmen nötig sind, welche wir während des Projektes einfließen lassen und welche erst im Nachgang.

Kulturgut soll Jahrhunderte, wenn nicht gar Jahrtausende überdauern. Was sind die größten Herausforderungen für den Originalerhalt im 21. Jahrhundert?

Eine der größten Herausforderungen wird aus meiner Sicht der Klimawandel sein. Angesichts der jüngsten Flutkatastrophen und immer stärker limitierten Ressourcen müssen wir uns die Frage stellen, wie Originalerhalt und Kulturgutschutz in den nächsten Jahrzehnten aussehen werden. Welche Wetterextreme werden "normal" und wie können wir unser Kulturgut vor solchen Einflüssen schützen? Können und wollen wir uns dauerhaft energieintensive und teure Klimatechnik leisten? Auch da gibt es schon innovative Lösungen, die stetig weiterentwickelt werden. Der Rohstoffmangel im Papierbereich sowie der Wunsch nachhaltiger zu produzieren führt zu neuen Materialkreationen bzw. zur Verwendung von mehr Recyclingmaterial. Auch das wird die Bestandserhaltung vor neue Herausforderungen stellen – wie überhaupt die Menge an Medienwerken (es wird ja immer mehr Bestand) und die verschiedenen Materialkombinationen. Es wird also nie langweilig!