Dr. Frank Steinheimer öffnet eine Tür zu einem Labor. Vor den Augen tut sich eine skurrile Szenerie auf: Der zerteilte Leib eines lebensgroßen Pferdes steht vor dem Betrachter. Auf Tischen ausgebreitet liegen diverse Innereien, Lunge, Herz und Magen, und der Kopf zerlegt vom Gehirn bis zum Auge. "Die Leber glänzt noch regelrecht", sagt Steinheimer, Leiter des Zentralmagazins Naturwissenschaftlicher Sammlungen an der Martin-Luther-Universität in Halle (Saale). Doch das ist keine blutige Angelegenheit. Das Pferd ist aus Pappmaché.

Bis weit ins 20. Jahrhundert diente dieses Pferdemodell des französischen Modellbauers Dr. Louis Thomas Jérôme Auzoux als Lehrobjekt der landwirtschaftlichen Fakultät. Auzoux war einer der bekanntesten und wichtigsten Hersteller für anatomische Modelle seiner Zeit. Er belieferte Hochschulen weltweit. Doch von jenem Pferd sind nur eine Handvoll ähnlicher Exemplare in Museen und Sammlungen von Paris bis London bekannt. Das Hallenser Exemplar gilt als Besonderheit. Seit 2012 ist es als national wertvolles Kulturgut eingestuft, das der Nachwelt für immer erhalten bleiben soll.

anatomisches Pferdemodell
Im geschlossenen Zustand lassen sich Muskeln und Blutgefäße des Modells studieren. Zum Öffnen wird der Schwanz in einem extra dafür vorgesehenen Loch im Hinterteil des Pferdes arretiert. © Katarzyna Cholewinska

"Die immense Größe und die Detailgenauigkeit des Objektes beeindruckte uns alle sehr", erinnert sich die Papierrestauratorin Sophie Philipp an den Moment, als sie dem Pferd das erste Mal gegenüberstand. Die anatomische Lektion, die die Restaurator·innen Katarzyna Cholewinska, Sophie Philipp, Iris Masson, Stefan Friebe und Jakob Fuchs unbeabsichtigt erhielten, zeugt vom enormen didaktischen Wert des Modells: Es erklärt die Proportionen und Lage der Organe en détail. Das Pferd ist mit 130 Zentimetern Höhe und 190 Zentimetern Länge einem Original eins zu eins nachempfunden. Es lässt sich längs des Korpus aufklappen, indem der Pferdeschwanz in einem extra dafür vorgesehenen Loch im Hinterteil des Pferdes arretiert wird. Gleich einem 3D-Puzzle lässt sich das Modell dann in bis zu 127 Teile zerlegen.

Von der Leber bis zum Oberschenkel

"Wie täuschend echt die Farbe des Fleisches wirkt", sagt Steinheimer und deutet in die Bauchhöhle des Pferdes. Bei der Manufaktur wurde es mit mehreren Schichten Temperafarbe im Wechsel mit Leim bemalt, sodass eine fast naturgetreue Imitation mit erstaunlicher Tiefenwirkung entstand. Gefäße und Nervenfasern heben sich plastisch von der Oberfläche ab. Sie bestehen aus Drähten, die mit farbigem Bast und Papier ummantelt sind. Sämtliche Organe von der Leber bis zum Darm, auch Rippen und ein Huf lassen sich abnehmen. Sie waren Auzouxs Spezialität, die zerlegbaren Modelle bis auf Ebene der Organe: Eine Aussparung in der Lunge gibt beispielsweise den Blick ins Innere frei auf ein Gewirr von sauerstoffreichen Blutgefäßen in Rot und sauerstoffarmen Venen in Blau. Die Gemälderestauratorin Katarzyna Cholewinska nimmt das Auge des Pferdemodells in die Hand und klappt die Netzhaut aus Glas ab. Die Iris samt Blutgefäßen und umliegende Sehnerven werden sichtbar. Es ist ein Pferd zum Begreifen.

Restauratorin Sophie Philipp
Restauratorin Sophie Philipp untersucht jedes Einzelteil des Pferdemodells, bevor sie mit der Bearbeitung beginnt. © Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg, Markus Scholz

Darauf verweisen auch rund 3.700 Etiketten, die auf Französisch alle Körperteile des Pappmaché-Tiers von der Leber bis zum Oberschenkel benennen. Auzoux präsentierte dieses oder ein baugleiches Exemplar erstmals auf der Weltausstellung in Paris 1867. Sieben Jahre später erwarb Julius Kühn, der Begründer des ersten landwirtschaftlichen Instituts an einer deutschen Universität, das Pferd für 3.000 französische Franc, die über Spenden zusammengetragen wurden. Kürzlich sei ein ähnliches, jedoch mit Insekten befallenes Pferdemodell von Auzoux für 60.000 Euro zur Auktion aufgerufen worden, berichtet Steinheimer. Das lässt den heutigen monetären Wert des wesentlich besser erhaltenen Hallenser Modells nur erahnen. Mit dem Erwerb des exquisiten Pappmaché-Tiers bekräftigte das landwirtschaftliche Institut der Universität Halle vor fast 150 Jahren seinen Anspruch, die beste Einrichtung seiner Art in Europa zu sein. Verstehen aber kann man die Aufmerksamkeit rund um dieses Haustier nur aus der Zeit heraus: "Das Pferd war damals von enormer Bedeutung, in etwa das Auto von heute: Es war Transportmittel und Zugtier im Alltag", sagt Steinheimer. "Es entschied aber auch über den Ausgang von Kriegen." Landwirtschaftsstudierende in Halle lernten deshalb über 100 Jahre lang an dem Modell Pferdeanatomie, bis neue Medien das Anschauungsobjekt ablösten. Vom regen Gebrauch wurde es dann auch stark in Mitleidenschaft gezogen.

Die besondere Materialität wird zum Problem

Der Erhaltungszustand war es, der Steinheimer und die Restaurator·innen auf den Plan rief. "Als ich das Pferd das erste Mal sah, blätterten die Malschichten überall ab", erinnert sich Cholewinska. "Die Papieretiketten waren verschmutzt und nicht mehr lesbar. Etliche waren im Zuge einer früheren groben Restaurierung übermalt." Über Jahre war das Pappmaché-Pferd in einem ehemaligen Stallgebäude des Museums für Haustierkunde in Halle enormen Schwankungen der Temperatur und Luftfeuchte ausgesetzt. Da es aus verschiedenen Materialien besteht, insbesondere im Inneren aus Metall, hatten die Werkstoffe immer wieder unterschiedlich auf die Umgebungsbedingungen reagiert. Das hatte die Schäden mit verursacht.

Katarzyna Cholewinska und Iris Masson
Katarzyna Cholewinska und Iris Masson bearbeiten die unterschiedlichen Farb- und Leimschichten auf der Oberfläche des Pferdekopfs. © Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg, Markus Scholz

Zwar war das Modell 1996 restauriert worden, aber diese Bearbeitung erfolgte "nicht fachgerecht", bedauert Steinheimer. "Sie hat das Pferdemodell sogar in seinem Wert geschmälert." Der damalige Restaurator bemalte die Außenhülle des Modells gänzlich neu, wobei sich seine Maltechnik deutlich vom Original absetzt. Im zusammengebauten Zustand wirkt das Pferd seither weniger naturgetreu. Auch zogen die verwendeten Lacke die ursprüngliche Farbe regelrecht vom Objekt ab. Risse, die damals mit Kit verschlossen wurden, öffneten sich bald wieder. Die in den 1990er-Jahren aufgebrachten Lackschichten schädigten die darunterliegende Substanz, urteilen die Restauratorinnen Annegret Philipsen und Silke Hönig in einem Untersuchungsbericht. Teils überdeckten die Farben Auzouxs Etiketten. "Das Modell lebt auch von dieser minutiösen Wissenschaftlichkeit, die über die Beschriftungen sichtbar wird, bei denen jeder kleine Muskel, jeder kleine Nerv mit einem Fachterminus belegt ist. Das hat der Restaurator damals verkannt", erläutert Steinheimer.

Neuland für die Restaurator·innen 

Die Aufgabe des jetzigen Restaurator·innenteams stand fest: Es sollte die Beschriftungen freilegen, reinigen und das Modell soweit sichern, dass es keinen weiteren Schaden nehmen würde. Wo erforderlich, sollte dafür die Lackschicht aus den 1990er-Jahren entfernt werden. Abstehende Farbschollen sollten die Restaurator·innen behutsam wieder auf dem Untergrund befestigen. Schließlich sollte das Pappmaché-Pferd an einen sicheren Ort umziehen, der für den Erhalt des wertvollen Kulturguts geeignet ist. "Das war auch ein gewisses Neuland, da ein so schweres Pappmaché-Objekt noch nicht in der Weise bearbeitet worden war", so Steinheimer. Die Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts (KEK) finanzierte diese Konservierung gemeinsam mit dem Zentralmagazin Naturwissenschaftlicher Sammlungen mit 70.000 Euro in einem zweijährigen Modellprojekt.

Pferdemodell aus Pappmaché
Das Auseinandernehmen und Zusammenbauen des Modells ist wegen der vielen Stifte und Hülsen ein mühsames Geschäft. © Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg, Frank Steinheimer

Früh stand fest: Für die Restaurierung musste das Team das Pappmaché-Tier zunächst auseinanderbauen. "Das war ein ganz besonderer Moment", erinnert sich Cholewinska. "Zu diesem Zeitpunkt war gar nicht klar, in welchem Zustand sich das Innere des Pferdes befand." Das Team konnte für die herausfordernde Aufgabe mit dem Restaurator Jakob Fuchs in Kontakt treten, der bereits ein anderes Modell von Auzoux zerlegt hatte. "Er wusste sofort, wie man es anfasst und auseinanderbaut. Er hat den Mut in das Team eingebracht, das Objekt zu händeln", so Steinheimer. Zwei Tage dauerte es, das Pferd in seine Teile zu zergliedern. Die Restaurator·innen filmten diesen Vorgang und versahen jedes Körperteil zusätzlich mit einem nummerierten Etikett. Schließlich würden sie es nach getaner Arbeit wieder zusammenfügen. Am Stück wiegt das Pferdemodell rund 200 Kilogramm und befindet sich deshalb auf einem fahrbaren Holzpodest, auf dem es die Lehrenden dereinst in die Hörsäle rollten. Tragen kann man es nicht. Steinheimer staunt eingedenk dieser Masse noch heute, wie es die Reise von Paris nach Halle vor etwa 150 Jahren überstand. Den Umzug im Frühjahr 2020 in die Räume des Zentralmagazins bewerkstelligen schließlich vier Möbelpacker, die den Unterleib des Tieres, dann den Oberkörper und schließlich die Innereien in Kartons verpackt in den ersten Stock des Hauptgebäudes hievten. Hier erledigten die Restaurator·innen den Hauptteil ihrer Feinarbeit: Mit viel Fingerspitzengefühl erwärmten sie mit einem Heizspachtel abgerollte Malschichten. Sorgsam befestigten sie diese mit einer Mischung aus Störleim und Stärkekleister auf dem Untergrund, den sie mit einer Spritze und einem Pinsel millimetergenau aufbrachten. Kerben oder Fehlstellen füllten sie mit einem weißen Kitt, der sich deutlich von der fleischfarbenen Umgebung absetzt. "Wir wollen die Schäden nicht verschleiern, da sie zur Geschichte des Objektes dazugehören", betont Steinheimer. Mit langen, Lösemittel getränkten Wattestäbchen, kleinen Kosmetikschwämmchen und akribischem Blick reinigte das Team auch die Oberfläche aller Körperteile. Die Beschriftungen legten sie schließlich ebenfalls mit Wattestäbchen frei. "Gelegentlich benutzten wir auch ein Skalpell", schildert Cholewinska und zeigt auf den rechten Hinterhuf. Dort holte das Restaurator·innenteam mehrere übermalte Beschriftungen zum Vorschein.

Die Restaurierung gibt neue Einsichten preis

Die Restaurator·innen glichen schließlich erstmals auch sämtliche Beschriftungen mit einem überlieferten Katalog zu einem Vorgängermodell von Auzouxs Pferden ab. Cholewinska berichtet: "Wir wissen jetzt: Die Etiketten im Inneren des Modells sind gut erhalten. Auf der stark überarbeiteten Außenhülle fehlen indes einige. Und bei der Namensgebung gibt es kleinere Abweichungen." Ob diese nachträglich vorgenommen wurden, könne lediglich der Originalkatalog zum Hallenser Pferd verraten. "Ich habe schon in verschiedenen Bibliotheken danach gesucht", sagt Cholewinska und vermutet, dass der Katalog verloren gegangen sei.

Modell eines Pferdeauges
Das Auge lässt sich aufklappen: Unter der Netzhaut aus Glas liegen die graue Iris mit ihren Blutgefäßen und zahlreiche Sehnerven, die sorgfältig nummeriert sind. © Susanne Donner

Während der Arbeiten gab das Pferdemodell auch neue Einsichten Preis, die künftig Anlass weiterer Nachforschungen sein dürften. Jedes Etikett ist in zweifacher Ausfertigung übereinander geklebt. Um eine Sicherungskopie scheint es sich dabei nicht zu handeln. Vielmehr vermuten die Restaurator·innen, dass der Prozess der Bemalung in Auzouxs Manufaktur dies nötig machte. Damit die 70 bis 80 Mitarbeitenden dort die Körperteile nicht durcheinanderbrachten, wurden vor der Bemalung Etiketten angebracht und diese nach dem Farbauftrag nochmals überklebt.

Kompliziert wie ein Flugzeug ist das Modell gebaut. Das wird klar, als der Veterinär der Universität Halle mit einem tragbaren Röntgengerät das Pferd durchleuchtet. Die Expert·innen staunen: Nicht nur das Skelett besteht wie erwartet aus Metall. Allerorten befinden sich winzige Drähte und Nägel als Stützsubstanz. Die Position dieses Zubehörs muss vor der Anfertigung millimetergenau festgestanden haben, ehe die Modellbauer die Pappmaché-Masse hinzugaben.

Ein Puzzlespiel mit Tücken

"Es war nicht genau bekannt, dass die Modelle mithilfe eines Geflechtes aus Metall entstanden. Vermutlich ist das aber auch bei anderen Papiermaché- Tieren aus Auzouxs Manufaktur so", betont Steinheimer. Die gigantischen Mengen an metallenen Kleinteilen erklären nicht nur Gewicht und Stabilität des Objekts, sondern auch, warum es so empfindlich auf Klimawechsel reagiert. Metall dehnt sich bei Wärme aus, Papier nicht. Papier aber weicht in feuchter Luft auf, Metall wiederum nicht. Dieses unterschiedliche Verhalten bedingt Risse und Abplatzungen.

Röntgenbild von Pferdemodell
Röntgenaufnahmen zeigen die verschlungene Konstruktion aus Drähten und Nägeln im Inneren des Pferdes. © Susanne Donner

"Es ist eine unglaubliche handwerkliche Meisterleistung, frische Kadaver von Pferden immer wieder und so genau zu studieren, um sie dann auf diese Weise lebensecht nachzuempfinden", sagt Steinheimer. "Und das ohne Kühlhaus und Konstruktionszeichnungen am Computer", fügt er hinzu und deutet damit an, dass die verwesenden Tierkadaver schon nach wenigen Stunden bestialisch gestunken haben müssen und ihr Erscheinungsbild zu verändern begannen. Ende 2020 bereiten sich die Restaurator·innen darauf vor, die letzten verbliebenen Defekte am Pferd zu konservieren. Hier wackelt noch eine Öse und dort tut sich ein kleiner Riss auf. Dann wollen sie das Pferd wieder zusammenstecken. "Das werden aufregende Tage", sagt der Holzrestaurator Stefan Friebe. Eigentlich hat Auzoux dafür gesorgt, dass alle dazu im Stande sein sollten, indem er jedes Teil akribisch nummerierte. Aber dieses kostbare 3D-Puzzle ist dennoch kein Kinderspiel. Die Teile sind über Stifte und Hülsen verbunden, die in millimetergenau passende Löcher gesetzt werden müssen und dann mit einer Öse befestigt werden. Viel Fingerarbeit ist also gefragt. Und wehe, dem Pferd fehlt am Ende das Herz. Dann heißt es, das Tier noch einmal zerlegen. "Wir schauen uns den Zeitraffer vorher noch einmal an", meint Cholewinska zu den Kolleg·innen, "damit wir vorbereitet sind". Nicken in der Runde. "Werden wieder Kameraaufnahmen gefertigt?", fragt Steinheimer.

Die fachgerechte Lagerung wird mitbedacht

Alles wird dokumentiert, ehe das Pferdemodell seinen vorerst endgültigen Platz in einem gigantischen Schaukasten vor einem Hörsaal im Gebäude finden soll. Es verdient ob seines kulturhistorischen Werts besondere Aufmerksamkeit unter den insgesamt 4,8 Millionen Sammlungsobjekten des Magazins. Und damit das Pappmaché-Tier nicht auch am neuen Standort unter Klimaschwankungen leidet, tauschen Bauarbeiter derzeit Dach und Fenster des Gebäudes aus. Dann sollte über den Tag eine stabile Temperatur und Luftfeuchte herrschen.

Wenn alles gut geht, wird das Pferd so bald nicht wieder Herz und Nieren preisgeben. Dies ahnend entschieden sich die Hallenser Expert·innen dazu, alle Organe und Körperteile zu digitalisieren. Ein 3D-Scanner erfasste mit einem Laserstrahl Unter- und Oberkörper des Pferdes. Kleine Teile nahmen die Mitarbeitenden des Zentralmagazins mittels Fotogrammetrie auf. Aus einer Serie von Fotografien werden dabei die Abmessungen eines Objekts errechnet, sodass es als 1-zu-1-Abbild auf einem Bildschirm erscheint. In einem Schaukasten des Zentralmagazins rotieren bereits das so erfasste Pferdeherz und das Auge auf einem kleinen Monitor. Und Steinheimer stellt in Aussicht: "Wir wollen das Pferd künftig als virtuelles 3D-Puzzle präsentieren." Dann können sich alle am Zerlegen und Zusammenfügen des Tiers versuchen.