"Mengenlehre studieren" überschrieb die Fachzeitschrift "Restauro" 2020 eine sechsseitige Reportage über die Eröffnung der ersten Akademischen Lehrwerkstatt für Papierrestaurierung im Mai 2019. Die Studierenden erprobten im täglichen Betrieb die Mengenverfahren, die nach dem Brand der Herzogin Anna Amalia Bibliothek 2004 für schwere hitze- und löschwassergeschädigte Druck- und Handschriften entwickelt, standardisiert und seit 2008 auf über 1 Million Blatt angewendet wurden.

Die reproduzierbaren Restaurierungsmethoden haben erhebliche Entwicklungspotentiale für andere schwere Schädigungen von Schriftgut. Daher wurde 2019 eine interdisziplinäre Kooperation mit der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim (HAWK), Studiengang Konservierung-Restaurierung und der Universität für Bodenkultur Wien (BOKU), Institut für Chemie nachwachsender Rohstoffe geschlossen. Neben Forschung und Entwicklung bis 2028 ermöglicht die Kooperation auch kontinuierlich einen Lehrbetrieb für Studierende im Bachelor- und Masterstudiengang. Die Werkstatt ist so zu einem außergewöhnlichen Lernort geworden, den Studierende bisher für 50 aufeinander aufbauende ein- bis zweiwöchige Praxisaufenthalte genutzt haben.

Ein Pilotprojekt in Kooperation mit der KEK

Auf dieser Grundlage haben die Bibliothek und die Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts (KEK) ein fünftägiges Fortbildungsangebot für Papier- und Buchrestaurator·innen vorbereitet. Die  Winter School richtet sich an Restaurator·innen, die bereits Erfahrungen im Umgang mit größeren Mengen geschädigten Schriftguts mitbringen und Verfahren der Mengenrestaurierung kennen oder kennenlernen möchten. In der Pilotphase stehen drei Fortbildungsplätze zur Verfügung.

Restauratorin mit brandgeschädigtem Objekt
Zwei rekonstruierte Doppelblätter nach dem Anfasern und dem flächigen Übervliesen mit Japanpapier. © Klassik Stiftung Weimar, HAAB

Zentraler Bestandteil des Programms ist die Behandlung hitzegeschädigter Papiere durch die Prozesse der Schriftgutkonservierung und -restaurierung. Die Behandlungsparameter werden entsprechend der Schädigung festgelegt. Auch die Stabilisierungsmethode wird an die vorhandenen Oberflächenstrukturen der Papiere, überlieferte Gebrauchsspuren, Provenienzmerkmale und grafische Elemente angepasst, damit sie erhalten bleiben. Diese Anpassung ist möglich, weil die Mengenprozesse modular aufgebaut sind, sodass je nach Zielstellung Parameter variiert und Behandlungsschritte ergänzt oder weggelassen werden können. Mithilfe einer patentierten Kompressionskassette können so pro Jahr ca. 60.000 Blatt nassbehandelt werden. Zu den Behandlungsmethoden gehört auch der Einsatz von Nanocellulose zur Stabilisierung fragmentierter Notenhandschriften mithilfe eines Sprühverfahrens. Nanofibrillierte Cellulose ist aufgrund ihrer Dimension und ihrer Materialeigenschaften sehr gut in der Lage, sich mit Papierfasern zu verbinden und geschädigte Papiere klebstofffrei punktuell oder flächig zu stabilisieren. Sie ist eine Cellulose mit einem Durchmesser von 5-30 nm, also von Millionstel Millimetern. Der detaillierte Wochenplan mit dem Programm der Winter School kann zusammen mit den Teilnahmebedingungen auf der Website der Bibliothek abgerufen werden. Bewerbungsschluss ist der 31. Juli 2023. Für die Teilnehmer·innen sind Einzelzimmer mit Frühstück im Hotel Augusta reserviert. Die Kosten für Unterkunft und Fahrt werden übernommen.

Auf dem Programm stehen Aschebücher

Am ersten Tag steht nach der Werkstattbesichtigung eine öffentliche Abendveranstaltung mit einer Vorstellung der Weimarer Lehrwerkstatt und einer Präsentation zum Thema "Nanocellulose – kleinste Fasern mit großem Potenzial" auf dem Programm. Am Dienstag, Mittwoch und Donnerstag werden die Kernprozesse der Restaurierung und Konservierung Schritt für Schritt vorgestellt und von den Teilnehmer·innen auf Materialproben angewendet. Als Übungsmaterial dienen brandgeschädigte und fragmentierte Papiere der 2004 geborgenen Aschebücher mit teilweise erhaltenen Buchblöcken, deren Einbände verbrannt sind. Die Arbeitsproben der Praxiswoche stehen den Teilnehmer·innen zur weiteren Verfügung.

brandgeschädigtes Objekt nach der Restaurierung
Das restaurierte Aschebuch im Konservierungseinband, hier Band acht von Herrn von Büffons "Naturgeschichte der vierfüßigen Thiere" (1783), erlaubt das Öffnen der Faltblätter. © Klassik Stiftung Weimar, HAAB

Der Tagesplan sieht jeweils nachmittags eine gemeinsame Runde mit den Mitarbeiterinnen der Werkstatt für Fragen und einen Erfahrungsaustausch vor. Am Dienstagnachmittag sind Prof. Dipl.-Ing. Dipl.-Rest. Ulrike Hähner (HAWK) und Prof. Dr. Antje Potthast (BOKU) vor Ort und werden über neue Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der Papierstabilisierung sowie deren Übertragung in die Praxis berichten.

Mit dem Format der Winter School streben die Veranstalter·innen eine stärkere Vernetzung von Partner·innen im Bereich kultureller Einrichtungen mit einschlägigen Spezialwerkstätten an. Durch Unterstützung der KEK sollen Impulse für spartenübergreifende Konservierungsstrategien gegeben werden, die auch über die 2023 gesetzten Inhalte hinaus für die bundesweite Koordinierung des Originalerhalts relevant sind.