1872 pulsiert Berlin: seit einem Jahr kaiserliche Reichshauptstadt, in die Höhe schießende Einwohnerzahlen. Rund um den Potsdamer Platz entstehen Hotels, Restaurants eröffnen. Unweit des Platzes, in der Potsdamer Straße 134c, zieht am 3. Oktober ein seit 22 Jahren verheiratetes Ehepaar mit zwei Kindern ein. Emilie und
Theodor Fontane richten sich mit ihrer Tochter Martha und dem Sohn Friedrich in der Mansardenwohnung
ein. Auch der Mahagoniholzschreibtisch des Schriftstellers findet seinen Platz, vor dem Fenster und doch mit ausreichend Abstand, um die rückseitigen, hinter Türen verborgenen Schübe nutzen zu können.

Ein Museum für das Berliner Bürgertum

Zwei Jahre später, im Oktober 1874, wird im mittelalterlichen Stadtzentrum Berlins das Märkische Provinzialmuseum gegründet. Dessen Leiter wird Stadtrat Ernst Friedel. Es ist die Geburtsstunde des ersten städtischen Museums, ganz unabhängig von der Monarchie. Von Beginn an kämpft die öffentliche Einrichtung mit einem zu knappen Etat von nur 2.000 Mark und ist auf "freiwillig[e] Spenden von Objecten, […] sofern sie culturgeschichtliches Interesse haben", angewiesen. Großzügig unterstützt das Berliner Bürgertum sein Museum, die Sammlung wächst stetig. Als erste öffentliche Institution nimmt das Provinzialmuseum am 6. Juni 1876 ein Autograf Fontanes in ihren Besitz. Unter der laufenden Nummer 172 steht im Inventarbuch
"Handschrift des Märkischen Schriftstellers Theodor Fontane […] an den Kaufmann Leo Alfiéri, betreffend das 'Maas’sche Bild'." Alfiéri, Adressat des Briefes und Mäzen des Museums, bezeugt mit seiner Schenkung das "culturgeschichtliche Interesse" an seinem Zeitgenossen Fontane. Heute listet die Nachfolgeinstitution des Provinzialmuseums, die Stiftung Stadtmuseum Berlin, eine Vielzahl der zu Lebzeiten des Schriftstellers erschienenen Manuskripte in ihrem Bestand – darunter Romane, Reiseliteratur und Kriegsbücher.

Stadtmuseum Berlin
Der Neubau für das Märkische Museum wurde 1908 eröffnet. © Stiftung Stadtmuseum Berlin, Max Missmann

Mit Wilhelm Lübke geht 1861 ein Freund und Begleiter Fontanes auf dessen Wanderungen durch die Mark Brandenburg aus Berlin fort. An das Eidgenössische Polytechnikum nach Zürich berufen, verlässt der Kunsthistoriker die Stadt. Seinen Schreibtisch mit den raumgreifenden Maßen von fast zwei Metern Breite und einem Meter Tiefe verkauft er an Fontane. "Das Besondere an diesem Schreibtisch waren die Schübe hinter den Türen", erinnert sich Bettina Machner, die seit 1986 die Fontane-Bestände im Berliner Stadtmuseum betreut. "Sobald die Abschrift seiner Werke zum Verleger ging, schlug Fontane seine Manuskripte in Zeitungspapier ein, versiegelte das Paket und legte es in einem der Schübe ab." 

Aus den Autografen des Schriftstellers lässt sich heute seine Arbeitsweise rekonstruieren. "Fontane schrieb, korrigierte, korrigierte, schrieb", erklärt Machner. Auf den bis zum äußersten Rand in großzügigen, geschwungenen Lettern beschriebenen Papieren im Folio-Format finden sich Anmerkungen und Korrekturen. Mit Rot-, Blau- und Bleistift griff Fontane in seine Texte ein. Wo ihm eine längere Passage nicht gefiel, überklebte er sie einfach mit neuen oder überarbeiteten Formulierungen. Was heute für die Literaturwissenschaft spannend und für die Restaurierung herausfordernd ist, wäre für die Verleger damals nicht brauchbar gewesen. So habe Emilie Fontane die Manuskripte ihres Mannes „in gestochen scharfer Schrift und fast fehlerfrei abgeschrieben“, erzählt Machner. Bevor Emilies Ausführung jedoch in die Druckerei ging, las und – in vielen Fällen – änderte ihr Ehemann sie noch einmal an einigen Stellen.

Geheime Schubladen für Manuskripte

Hinten, unter der schweren Tischplatte von Fontanes Arbeitsstätte und Wörterwerkbank, stapelten sich mit den Jahren seine fertigen Werke. Auf der Platte, stets griffbereit, lag ein Stoß einseitig beschriebener Blätter. Entwürfe und Verworfenes strich der Dichter energisch durch, vermerkte "ungültig" darauf und beschrieb die leere Rückseite mit neuen Texten. Unter den Seiten des 1898 erschienenen autobiografischen Werks "Von Zwanzig bis Dreißig" entdeckte man z.B. rückseitig einen Brief aus der Feder Rainer Maria Rilkes. "Auf den Manuskriptpapieren von 'Vor dem Sturm' finden sich Passagen, die wir den 'Wanderungen durch die Mark Brandenburg' zuordnen", erklärt Bettina Machner, "aber bei späteren Werken wie Effi Briest beschrieb der Autor oft nur die Vorderseiten."

Fontane Manuskript
Manuskriptseite des Romans "Frau Jenny Treibel" (1893). © Stiftung Stadtmuseum Berlin, Max Missmann

Was mit den handschriftlichen Manuskripten der zu Lebzeiten Fontanes publizierten Werke langfristig passieren soll, legt das Ehepaar im Februar 1892 nicht fest, als es mit dem Rechtsanwalt Paul Meyer sein Testament aufsetzt. Über den Umgang mit den unveröffentlichten Schriften diskutieren die drei: Der Schriftsteller plädiert für die Vernichtung, Paul Meyer kann ihn jedoch davon abhalten. Als Kompromiss einigen sie sich auf eine Nachlasskommission – bestehend aus Tochter Martha, dem Schriftsteller Paul Schlenther und Meyer selbst –, die über den Umgang mit den Materialien entscheiden soll. Kurz nach dem Tod Theodor Fontanes am 20. September 1898 initiiert die Museumsleitung die Anbringung einer Gedenktafel am Haus in der Potsdamer Straße 134c. Kurz darauf bekundet der Direktor Ernst Friedel der Witwe gegenüber sein Interesse am dichterischen Nachlass ihres Mannes. Erfolgreich, wie das Postausgangsbuch des Museums vermuten lässt: Für die Bereitschaft, Objekte ins Museum zu geben, bedankt sich Friedel bereits im Januar 1900. Als Emilie Fontane selbst am 2. Februar 1902 verstirbt, tritt die Nachlasskommission zusammen. Fontanes Tochter Martha Fritsch und Paul Schlenther tauschen sich in den ersten Märztagen brieflich darüber aus, was nun zu tun sei. Schlenther erinnert sich: "Dann sagte sie [Emilie Fontane]: 'nach meinem Tode kommt der Schreibtisch mit allem was darin ist, ins neue Märkische Museum.'" Und er ergänzt: "Sofort dachte ich [...] an die Möglichkeit, im neuen Museum ein Fontane-Zimmer einzurichten [...]. Dies Zimmer müßte möglichst treu dem lieben alten Arbeits = und Freudenraume in der Pots. [damer] Str.[aße] nachgebildet werden, gefüllt mit Th.[eodor] F.[ontane] = Reliquien, soweit sie habhaft sind."

Eine Werkbank als Schatzkästchen

Die Eintragung im Inventarbuch des Märkischen Museums vom 17. März 1902 vermerkt: Der Schreibtisch, der dazugehörige Sessel, ein Tintenfass, ein Papierkorb, ein Pappkästchen mit prämierten Gänsefedern und eine Stahlbrille wurden dem Museum von den Erbinnen und Erben geschenkt. Was sich im Schreibtisch verbirgt, listet erst ein Inventarbuch aus dem folgenden Jahr auf, darunter "Effi Briest", "Wanderungen" und "Vor dem Sturm". "Nur die Titel wurden aufgeschrieben, nicht ob sie vollständig waren, nicht wieviel Blatt sie hatten, nichts, gar nichts", bedauert Bettina Machner. 1930 und 1932 ergänzen Schenkungen u.a. durch den jüngsten Sohn Friedrich Fontane den Bestand. Paul Schlenthers Erkenntnis, Fontane „gehöre auch zur Geschichte und Cultur seiner Zeit und seines Volkes“, manifestiert der 1908 eröffnete Bau des Märkischen Museums. Ludwig Hoffmann, berühmter Berliner Baumeister und Architekt des Museums, entwirft und gestaltet auch ein Fontane-Zimmer.

Mit Anbruch des Kriegs 1939 verstauen die Museumsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter Teile der Sammlungen im Keller. "Das Märkische Museum ist im Krieg davon ausgegangen: Wir werden nicht bombardiert. Das war
natürlich ein Irrtum. Die Objekte wurden bei Nacht und Nebel verpackt, die Manuskripte einfach auseinandergenommen, hier in die Kiste, dort in die Kiste verstaut. Ein Teil der Materialien ist hiergeblieben, der andere ist ausgelagert worden", rekonstruiert Bettina Machner die Verlagerungsgeschichte des Bestands. "Der Schreibtisch kam nie wieder zurück." Verbleib unbekannt – heute steht eine Replik im Museum.

Fontane Manuskript
Das Manuskript von "Unterm Birnbaum" (1885) war in eine Zeitungsbanderole eingewickelt. © Stiftung Stadtmuseum Berlin

Wieder aufgetaucht sind die Manuskripte: "Aus dem Schutt des Märkischen Museums sichtete jetzt der Direktor Dr. Stengle die Originalhandschriften Fontanescher Romane" titelt die Neue Zeit am 8. Juli 1948. "Unterm Birnbaum", "Onkel Dodo", "L’Adultera", "Vor dem Sturm", "Effi Briest", "Meine Kinderjahre", "Von Zwanzig bis Dreißig" sowie Teile der "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" fanden sich im Keller. Kein einziges Manuskript war noch vollständig. 1975 kehrten weitere Dokumente zurück, deren Auslagerungsorte sich heute auf polnischem Territorium befinden. Die bisher letzten "Rückkehrer" erreichten das Museum – nun unter dem Namen Stiftung Stadtmuseum Berlin – am 10. Mai 2000. Fünf Kartons mit Sammelkästen entdeckte das Landesarchiv Berlin durch eine Inventur; die 144 Manuskriptbündel übergab es dem Museum. Alle Titel, die damals im Inventarbuch verzeichnet wurden, sind heute wieder vertreten.

Mehr als 9.000 Blatt zählt die umfangreiche Sammlung von Romanautografen Theodor Fontanes. 9.000 Blatt, die seinen Arbeitsprozess sichtbar machen, seine literarische und biografische Welt eröffnen, die aber inzwischen auch ihre eigenen Geschichten erzählen.