Wer an der Sozial- und Rechtsgeschichte Italiens im Mittelalter interessiert ist und wissen will, was die Familien der Medici, Visconti oder die Dogen von Venedig urkundlich bestätigten, muss gar nicht weit in den Süden reisen: Die Universitäts- und Landesbibliothek (ULB) Sachsen-Anhalt in Halle besitzt ca. 3.700 Urkunden aus dem 11. bis 15. Jahrhundert, die der italienische Historiker Carlo Morbio (1811–1881) gesammelt hat. Neben Urkunden dieser bekannten Familien befinden sich Papst- und Herrscher- sowie zahlreiche Notarsurkunden in der Sammlung. Seit 1890 gehört sie der ULB und wird nun restauriert und schrittweise der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Möglich wird das durch eine Finanzierung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Doch so leicht lässt sich der Schatz nicht heben. Das liegt zum einen an der materiellen Überlieferungsform, denn alle Urkunden sind aus Pergament und von unterschiedlicher Größe und Qualität: Die kleinste Urkunde misst ca. 13x18 cm, die größeren sind ca. 60x80 cm groß. Manche sind zwar nur ca. 20-25 cm breit, aber bis zu 2 Meter lang, da mehrere Urkunden hintereinander geklebt wurden. Zum anderen hat die Zeit ihre Spuren hinterlassen: Das Pergament ist geknickt und weist Wasserflecken auf, sodass mitunter der Text gar nicht mehr oder nur noch in Ansätzen lesbar ist. Löcher sind im Pergament entstanden, der Staub lässt Tinte und Beschreibstoff verblassen. Nicht alle Urkunden sind als einzelne Blätter erhalten: Teilweise sind sie in großformatige Bücher eingeklebt, die die schnelle Nutzung einschränken.
Vor der Digitalisierung stehen viele Arbeitsschritte
Wie werden diese Urkunden nun der Öffentlichkeit zugänglich? Im Rahmen eines studienbegleitenden Praktikums konnte ich drei Wochen lang Dr. Julia Knödler, die als Leiterin der Historischen Sammlungen das Projekt betreut, und ihre Mitarbeiter·innen bei der Arbeit begleiten. Das große Ziel, die Sammlung frei zugänglich zu machen, bedeutet: Jede Urkunde soll über den Bibliothekskatalog sowie die einschlägigen Fachportale auffindbar und mit einem Bild verknüpft sein, damit Interessierte sich schnell Überblick über Inhalt und Gestaltung verschaffen und diese Informationen verwenden können – zum eigenen Studium, für Forschungsarbeiten oder einfach aus Interesse an Geschichte.
Was auf die Nutzenden womöglich einfach wirkt, erfordert im Hintergrund viele kleinteilige Arbeitsschritte. Dazu gehört als erstes die fachgerechte Reinigung und Reparatur, die durch das Restaurator·innenteam der Bibliothek verantwortet wird. Einige der großformatigen Foliobände mit Urkunden sowie der Großteil der losen Stücke schickte man nach Leipzig ins Zentrum für Bucherhaltung, wo sie mit Latexschwämmen gereinigt wurden. Möglich war dies durch eine Förderung im BKM-Sonderprogramm. Zurück in Halle müssen die Blätter geglättet werden. Da die Tierhaut, aus der das Pergament einst hergestellt wurde, über die Jahrhunderte ausgetrocknet und erhärtet ist, werden die Urkunden zunächst in Feuchtekammern gelagert und dann durch Pressen wieder in Form gebracht. Außerdem werden Risse und Löcher geschlossen, ehe die Urkunden digitalisiert werden können. Anschließend lagern sie in Mappen aus säurefreiem Papier. Besonders wichtig ist das für ca. 100 Objekte, die als "Prachturkunden" aus der Sammlung herausstechen: Sie sind durch rahmende Zeichnungen besonders aufwändig gestaltet und enthalten am Rand zum Teil noch die originalen Wachssiegel. Im Anschluss an diese Maßnahmen übernehmen Bibliothekar·innen die weitere Arbeit.
Erschließung gemäß internationaler Standards
An der Urkundensammlung wird deutlich, wie ein ehemals nur Fachleuten bekannter Wissensbestand dank moderner Technologien frei zugänglich und teilbar wird. Damit beantwortet das Projekt beispielhaft die immer stärker werdende Forderung an die Wissenschaft, dass Forschungsergebnisse – auch zu historischen Beständen – frei im Internet auffindbar und teilbar sein sollen (open access). Bei der Sammlung Morbio lässt sich dies besonders gut beobachten. Nach der Restaurierung werden alle Urkunden nach inhaltlichen und formalen Kriterien erschlossen: Was für eine Art von Urkunde liegt vor? Wer hat wann wem was versprochen oder übertragen? Wer hat dies beglaubigt? Wie groß ist die Urkunde? Alle diese Informationen werden nach Möglichkeit mit normierten GND-Datensätzen verknüpft und in den Bibliothekskatalog aufgenommen. Dadurch sind die Urkunden datentechnisch standardisiert erfasst und die so entstandenen Metadaten lassen sich z. B. in weitere Datenbanken implementieren. Außerdem wird jede Urkunde digitalisiert und die Bilddatei mit dem Katalogeintrag verknüpft.
Sämtliche Digitalisate sind im Format IIIF (International Image Interoperability Framework) zugänglich, das interoperabel ist und ermöglicht, andere Bilddokumente – auch aus verschiedenen Institutionen – für vergleichende Studien im selben Viewer nebeneinander anzuordnen. Schließlich werden alle Daten auf dem bibliotheksinternen Server Share_it gespeichert und stehen Interessierten lizenzfrei zur Verfügung. Auf diese Weise erfüllt die Restaurierung der Sammlung die vier Prinzipien, die unter dem Akronym FAIR an digital frei zugängliche Wissensbestände gestellt werden: Die Urkunden sind auffindbar (findable), zugänglich (acccessable), interoperabel (interoperable) und wiederverwendbar (reusable).
Im Fall der Morbio-Urkunden ist die Digitalisierung aus zwei weiteren Gründen sinnvoll: Zum einen gibt es neben dem Vorhaben in Halle auch an der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen ein Projekt zur Schadenserfassung von Handschriftenfragmenten, die in Morbios Nachlass gefunden wurden. Die Digitalisierung erweist sich als eine gute Möglichkeit, den verstreuten Nachlass wieder zusammenzuführen und als Einheit erkennbar werden zu lassen.
Zum anderen ermöglicht die hohe Qualität der Digitalisate ein detailliertes Studium der Quelltexte, ohne dass das Original herangezogen werden müsste und dadurch potenziell weiter beschädigt würde. Dadurch lässt sich auf ganz neue Weise der ursprüngliche Zweck, zu dem die Sammlung von der ULB erworben wurde, wiederherstellen. Denn die Universität wollte eine möglichst reichhaltige Studiensammlung aufbauen, um die unterschiedlichen Urkundenarten im Geschichtsstudium vermitteln zu können. Nun müssen Interessierte nicht einmal nach Halle fahren, sondern können sich am heimischen Rechner einen Hauch mittelalterlichen Flairs nach Hause holen.