Als die Papierrestauratorin Vendulka Čejchan im Sommer 2021 eine kühlschrankgroße Kiste des Kunsttransportunternehmens Hasenkamp bekam, war es "ein bisschen wie Weihnachten", sagt sie. In ihrer Werkstatt im Herzen Berlins öffnete sie die schweren metallenen Riegel der mit Filz und Schaumstoff ausgekleideten Kiste und blickte auf diverse Leinenkassetten. Darin befanden sich die eigentlichen Kostbarkeiten: Fast dreihundert Jahre alte Notenhandschriften mit Kantaten des Komponisten Georg Philipp Telemann (1681–1767). Über vier Jahrzehnte prägte er die kirchliche und die Opernmusik der Stadt Hamburg. Er stand mit der Familie Johann Sebastian Bachs in enger Verbindung. Bach führte mitunter einige der Telemann-Werke auf.

Čejchan nimmt vorsichtig ein Notenblatt in die Hand. Kunstvoll muten die mit schwarzer Tinte von Hand geschriebenen Partituren an. Das Papier ist leicht vergilbt. Dennoch ahnt man auf den ersten Blick nicht, welch fragiles Schriftgut die Restauratorin in ihren Händen hält. Erst als sie das Blatt auf einen Leuchttisch legt, wird das Ausmaß der Gefahr klar: Das Licht strahlt grell durch kleine Löcher im Papier, wo sich einst Noten in sattem Schwarz auf dem Papier befanden. Die Notenköpfe sind aus dem Blatt herausgefallen. "Das ist eine typische Folge von Tintenfraß", bedauert Čejchan. Die Tinte zerstört das Papier. "Wenn die Partituren mit Passion geschrieben sind, wirkte die Feder fast wie ein Skalpell und der Tintenauftrag war besonders üppig. Dann ist der Schaden jetzt besonders groß."

Rettung einzigartiger musikhistorischer Zeugnisse

Tintenfraß ist aber nicht das einzige Problem, das Čejchan den Notenhandschriften von Telemann ansieht. Unter dem Durchlicht zeichnen sich lange gezackte Risse in den Papieren ab. Sie befinden sich oft nahe der rechten und linken Ecke. Čejchan vermutet, dass diese Risse eine Folge des Blätterns sind. Das Biegen der Papiere hat die Fasern über die Jahrhunderte mechanisch angegriffen. Risse und Tintenfraß zersetzen die Notenblätter nun allmählich. Einige Notenpartien lassen sich schon jetzt nicht mehr richtig lesen. 483 besonders stark geschädigte Notenblätter des berühmten Hamburger Komponisten wird Čejchan in den kommenden Monaten sichten und die Schadensbilder erfassen. Schließlich wird sie die Musikalien so restaurieren und sichern, dass sie digitalisiert werden können.

Vendulka Čejchan und Ursula Hartwieg
Über die Jahrhunderte wurden die Fasern des Papiers angegriffen. Jedes Blättern könnte weiteren Schaden zufügen. © Jörg F. Müller

Die KEK finanziert das Modellprojekt zur Erhaltung der kostbaren Sammlung mit knapp 16.000 Euro. Forschende dürften die Bereitstellung der Notenblätter mit Spannung erwarten. Denn die Werke von Telemann haben eine bemerkenswerte politische Geschichte, gehörten sie doch einst zur sowjetischen Beutekunst. Für die Musikwissenschaft sind sie wertvolle Zeugnisse einer einsetzenden Neuausrichtung in der klassischen wie geistlichen Musik im 18. Jahrhundert.

Telemanns Werke gehören zum privaten Besitz der Sing-Akademie zu Berlin. Sie ist die älteste Chor-Vereinigung in Deutschland; ihr Archiv verkörpert eine der weltweit wichtigsten privaten Musiksammlungen des 18. Jahrhunderts. Werke von Vivaldi und der Bach-Familie sind zum Teil nur dort erhalten. Der Fundus geht auf Carl Friedrich Zelter zurück, dem zweiten Direktor der Sing-Akademie, der von 1800 an Notenhandschriften von Kantoreien aufkaufte, die dort auf den Dachböden zum Verfeuern bereitlagen. Voll Genugtuung schilderte er seinem Freund Johann Wolfgang von Goethe in Briefen, wenn er wieder Kantaten und Opern vor dem Feuer retten konnte. So gelangte auch der umfangreiche Bestand an Musiken Georg Philipp Telemanns in das Archiv.

Telemann ist bei weitem kein Einzelfall

Im Archiv der Sing-Akademie sind viele der Telemann-Kompositionen jedoch bis heute für die Nutzung gesperrt. Anfassen oder einsehen darf die Notenblätter niemand, damit sie nicht weiter in Mitleidenschaft gezogen werden. "Die Schäden sind ausgeprägter als bei den Werken der Bach-Familie", bedauert der Programmleiter und Dramaturg an der Sing-Akademie zu Berlin, Christian Filips. Mit der Initiative "Rettet Telemann!" beabsichtigt die Stiftung, nun mittels Spenden und öffentlicher Fördergelder das gesamte Werk Telemanns, 7.390 Blatt verteilt auf 350 Signaturen, für die Nachwelt zu erhalten. Eine Signatur entspricht meist einer Kantate. Ziel ist es, die Werke so zu restaurieren, dass sie in digitaler Form Musiker·innen, Komponist·innen und Forscher·innen aus aller Welt zugänglich gemacht werden können. 550.000 Euro veranschlagt die Stiftung für das gesamte Vorhaben. Mit der Unterstützung der KEK ist nun ein Anfang für die besonders bedrohten Notenblätter gemacht.

Tintenfraß an Handschrift
Bei dieser Archivalie des St. Andreas-Hospitals führte der Tintenfraß zu massiven Ausbrüchen von Papier. © Stadtarchiv Offenburg, Tycho Klettner

Tintenfraß gefährdet an vielen Archivstandorten der Welt kostbare historische Dokumente. Im Stadtarchiv Coesfeld lassen sich Amtsbücher und Urkunden aus der Zeit des 16. bis ins 19. Jahrhundert weder transportieren noch fotografieren. "Wenn man auf eine Stelle drückt, bricht diese direkt heraus", sagt der Leiter des Stadtarchivs Norbert Damberg. Viele Aufzeichnungen sind jedoch einzigartig und zeugen von einer wechselvollen Geschichte. Der Ausbau der Stadt im 17. Jahrhundert ging mit dem Bau einer Befestigung einher, die Streitigkeiten mit Bürger·innen nach sich zog, deren Grundstücke von der Mauer betroffen waren. Auch der Versuch der Täufer, in den Jahren 1532 bis 1534 in dem überwiegend katholischen Bistum an die Macht zu gelangen, ist dokumentiert. Dieser wurde vereitelt und Anhänger·innen der Glaubensbewegung hingerichtet. Der fortschreitende Tintenfraß verhindert jedoch eine weitergehende Aufarbeitung der Stadtgeschichte. Im kommenden Jahr sollen die am stärksten bedrohten Unterlagen daher restauriert werden. Die KEK fördert auch dieses Projekt mit 8.000 Euro.

Ähnlich gefährdet sind die historischen Aufzeichnungen des Sankt-Andreas-Hospitals in Offenburg. Das Krankenhaus wurde im 13. Jahrhundert als Bürgerstiftung gegründet und entwickelte sich dann zu einem einflussreichen Unternehmen in der Region. Die Bürger·innen schenkten Ländereien und Weingüter teils aus karitativen Beweggründen, aber auch, um sich im letzten Lebensabschnitt im Krankenhaus aufnehmen und versorgen zu lassen – ähnlich einem heutigen Altenheim. Die Stiftung prägte auf diese Weise über 600 Jahre das öffentliche und wirtschaftliche Leben der Stadt. Doch die sieben Regalmeter mit Aufzeichnungen über die Offenburger Hospitalstiftung Sankt Andreas sind vom Tintenfraß betroffen. Mit Fördergeldern der KEK werden sie derzeit mit 10.000 Euro in Stand gesetzt.

Alles begann mit einer Schlupfwespe

Die Ursache für die Auflösung der Papiere liegt in der Zusammensetzung der Tinten. Ab dem 3. Jahrhundert und bis weit ins 19. Jahrhundert hinein gab es keine standardisierten Schreibfarben, wie wir sie heute kennen. Kleine Manufakturen stellten sogenannte Eisengallustinten nach ihren eigenen Methoden und Rezepturen her, weiß Čejchan. Sie kauften dafür meist Vitriol, eine grüne Flüssigkeit, in der sich gelöstes Eisensulfat befand. Diese grüne Flüssigkeit kochten sie mit Galläpfeln zu einem dunkel gefärbten Sud, der späteren Tinte. Čejchan entnimmt aus einer Schachtel eine walnussgroße braune Kugel und hält sie in die Höhe, ein Gallapfel. Fest und glatt fühlt er sich an. Nur ein winziges Loch zeugt davon, dass es sich nicht um eine echte Frucht handelt: Galläpfel entstehen, wenn Schlupfwespen ihre Eier auf die Unterseite eines Eichenblattes setzen. Der Baum kapselt die Parasiteneier dann in einem Apfel ein. Die runden Aufwüchse enthalten bis zu 60 Prozent an Gallsäure. Zusammen mit den Eisensalzen bildet diese Säure einen schwarzen Farbstoff, der mit Gummi arabicum zu einer Tinte verarbeitet wird.

Galläpfel
Über Jahrhunderte wurde Tinte aus Galläpfeln hergestellt. © Jörg F. Müller

Diese Eisengallustinte eignet sich ausgezeichnet zum Schreiben und gilt als dokumentenecht. Sie lässt sich weder spurlos entfernen, etwa ausradieren, noch bleicht sie über die Zeit aus oder verändert ihre Farbe. Diese Vorteile stehen allerdings einem gravierenden Nachteil gegenüber, der erst auf Dauer zum Vorschein kommt: Das Sulfat in der Tinte bildet mit Wasser aus dem Papier und der Luft Schwefelsäure. Die aggressive Säure greift die langen Cellulosemoleküle im Papier an und spaltet sie nach und nach. "Das passiert, während wir hier reden. Sehen kann man es nur erst nach Jahrzehnten oder Jahrhunderten", erklärt Čejchan. Je nach Stärke und Qualität der verwendeten Papiere entstehen früher oder später ausgehend vom Schriftbild Risse und Löcher. Ganze Fragmente können schließlich aus den Seiten herausfallen, warnt sie.

"Ich möchte keine neue Komposition schreiben"

Auch bei Telemanns Musikalien ist dieser Katastrophenfall schon eingetreten. Reiskorngroße Schnipsel, einzelne Notenköpfe und größere Fragmente sammelt die Restauratorin in einem separaten Kuvert. Die betroffenen Notenblätter sind unvollständig und nicht mehr lückenlos lesbar. Für Čejchan bedeutet der Zerfall mühevolle Puzzlearbeit. Sie kann die herausgebrochenen Fragmente nur anhand ihres Umrisses einem Notenblatt zuordnen. "An einigen Stellen brauche ich eventuell Hilfe von einem Musikwissenschaftler", sagt sie zu Filips. "Ich möchte ja keine neue Komposition schreiben." Es komme vor, dass man Archivalien nicht retten könne, gibt Čejchan zu bedenken. "Aber es ist sehr selten." Was mit den Telemanniana verloren ginge, wenn die Restauratorin nicht helfen kann, wird klar, wenn man sich der Sammlung musikwissenschaftlich nähert.

Telemann steht zwar in der Forschung mitunter im Schatten von Johann Sebastian Bach. Sein Werk ist aber von besonderem Wert und zugleich ein musikhistorisches Zeugnis jener Zeit, wie Filips erläutert. "Die Kantaten aus dem vom Tintenfraß betroffenen Jahrgang sind besonders kunstvoll und in sehr großer Besetzung ausgearbeitet." Das war für die damalige Zeit ungewöhnlich, schrieben Komponist·innen im 18. Jahrhundert ihre Stücke doch in der Regel nur für eine einzige Aufführung – etwa als Gebrauchsmusik zum Gottesdienst. Historische Werke hatten noch nicht den Stellenwert, der ihnen heute in der klassischen Musik zukommt. Telemann entwickelte aber offenbar eine große Passion beim Komponieren, verfügte über eine außerordentliche Instrumentenkunde und entfaltete einen rechten Pioniergeist. "Telemann verweltlichte die geistliche Musik und vergeistlichte ein Stück weit die weltliche Musiktradition", sagt Filips.

Auf dem Lightpad lassen sich die Risse und Beanspruchungen des Notenblatts deutlich erkennen. © Jörg F. Müller

Dazu trug sicherlich seine doppelte Funktion im Hamburger Musikleben bei: Er war Kantor der fünf Hauptkirchen in der Hansestadt und leitete die Oper. Seine Oratorien wirken bis heute kunstvoll inszeniert. Das Orchester besetzte er opulent mit Geigen, Klarinetten, Posaunen und Trompeten und vielen weiteren Instrumenten, wie ein Blick auf ein Himmelfahrtsoratorium verrät, das vor Čejchan auf dem Tisch liegt. Jeder Stimme im Chor wies Telemann einen Charakter, eine sogenannte Allegorie zu. "Die Stille", "die göttliche Einsicht", "die Freude" und "die Andacht" stehen in lateinischer Schrift auf dem fast 300 Jahre alten Notenbogen. Diese allegorische Rollenverteilung war in der Kirchenmusik unüblich, eher eine barocke Praxis, die in der Oper geschätzt wurde. Die selbstbewusste Hamburger Bürgerschaft mochte jedoch, dass jede·r Sänger·in Bedeutung beigemessen und Einzelne damit aufgewertet wurden. "Die Werke klingen lebensnah, aufklärerisch und ermuntern zum Handeln", sagt Filips. Zum Ausdruck kommt das auch in den nicht allzu pietistischen Texten, die von Dichtern der Hansestadt stammen: von Barthold Heinrich Brockes, Albrecht Jacob Zell und Johann Ulrich.

Blatt für Blatt Entscheidungen treffen

Vom Tintenfraß betroffen sind vor allem die Kantaten mit Libretti von Albrecht Jacob Zell (1701–1754), weshalb auch vom Zellischen Jahrgang die Rede ist. Dieser wurde über die Musikgemeinde hinaus bekannt: Der Dichter Gotthold Ephraim Lessing schrieb, er habe gehört, dieser Jahrgang habe ein ganz besonderes Verhältnis zur Nachahmung. Seinerzeit diskutierten Künstler·innen, ob die Nachahmung von Naturphänomenen in der Kunst, die Mimesis, geschmackvoll sei oder nicht. Telemann jedenfalls liebte den naturalistischen Bezug und übersetzte das Blöken der Schafe oder den Gesang der Vögel in Musik. "Ich werde oft gefragt, ob ich lese, was ich restauriere", erzählt Čejchan. "Ich konzentriere mich aber zunächst ganz auf die Materialität, die Haptik und die Beschaffenheit. Zugleich ist es hochspannend für mich, mehr darüber zu erfahren, was ich vor mir habe. Das hilft mir bei meiner Arbeit."

Sie hält ein Notenblatt in der Hand, auf dem im unteren Bereich zwei Überklebungen sichtbar sind, unter denen das Notenbild sehr verschwommen erscheint. "Das sind alte Reparaturen", sagt Čejchan. "Es wäre spannend zu wissen, aus welcher Zeit sie sind. Vielleicht könnte man das Alter der Überklebungen von einem Institut datieren lassen." Mit einem Skalpell hat sie die Überklebungen an einer kleinen Stelle vorsichtig abgelöst. Sie hält ein dünnes Transparentpapier zwischen den Fingern. "Das hat man mit einem wässrigen Klebstoff aufgebracht", erläutert sie. Deshalb ist die Tinte in den Bereichen regelrecht verlaufen und die Noten nur mehr verschwommen zu erkennen. Den Partituren hat die Reparatur nicht gutgetan. Denn Wasser beschleunigt den Tintenfraß, da dann mehr Schwefelsäure entsteht. "Wässrige Klebetechniken sind bei Tintenfraß heikel", sagt die Expertin.

Japanpapier
Dieses Japanpapier wiegt 3,7 Gramm je Quadratmeter und wird vor allem zur Stabilisierung eingesetzt. © Jörg F. Müller

Sie selbst favorisiert daher für Telemanns bedrohte Musikalien andere, möglichst minimalinvasive Verfahren. Sie verstärkt die Notenblätter von oben und unten mit hauchdünnen Japanpapieren. Čejchan nimmt ein Stück Japanpapier in die Hand. Es erscheint fast durchsichtig wie Gaze. Lange, zarte Papierfasern sind darin zu erkennen. Dieses Spezialpapier wiegt nur 3,7 Gramm je Quadratmeter, wohingegen gewöhnliches Papier im Büro 80 Gramm je Quadratmeter auf die Waage bringt. Čejchan beschichtet das Japanpapier mit zwei Klebstoffen, Methylcellulose und dem ebenfalls cellulosebasierten Klucel G. Der Vorteil: Diese beiden Klebstoffe lassen sich mit einer Mischung aus Alkohol und Wasser aktivieren, sodass möglichst wenig Feuchtigkeit in das Blatt dringt. Überklebt mit Japanpapier erscheinen die Partituren zwar etwas milchig, aber immer noch kontrastreich genug, um sie zu lesen und später zu digitalisieren. Vor allem aber sind die Notenbögen nun stabil und fest, sie biegen sich kaum, wenn Čejchan sie anhebt. Mit einer ähnlichen Methode retteten Restaurator·innen die angesengten Bücher der Weimarer Anna Amalia Bibliothek, deren Blattkanten schwarz und bröselig wie Knäckebrot waren.

Zeugen der politischen Sammlungsgeschichte

Vor jedem Blatt muss Čejchan aufs Neue entscheiden, wie sie es konservieren kann. Die Entscheidungen fallen nicht immer leicht. Auf den Notenblättern prangen Stempel der Sing-Akademie zu Berlin und Bleistiftsignaturen noch von Zelter selbst. "Die farbigen Stempel spare ich beim Aktivieren des Klebstoffs aus", erklärt die Restauratorin. Sie könnten ausbluten oder leiden. "Auf einem Papier sind so viele Informationen, von denen wir gar nicht immer wissen, was sie bedeuten", sagt sie. So trägt jedes Notenblatt auch zwei russische Stempel, die bisher noch nicht übersetzt wurden. Sie zeugen allerdings von der höchstinteressanten politischen Geschichte der Musikaliensammlung. Als die Bombardierung Berlins einsetzte, sorgte sich die Sing-Akademie um die Notenhandschriften und lagerte sie 1943 nach Ostpreußen aus. Dort gelangten sie in die Hände der Roten Armee und kamen als Beutekunst nach Moskau und schließlich in das Archiv für Literatur und Kunst in Kiew.

Vendulka Čejchan und Ursula Hartwieg
Vendulka Čejchan erläutert Ursula Hartwieg die besondere Herausforderung bei Telemann.© Jörg F. Müller

Der deutsche Musikwissenschaftler Christoph Wolff, der zuletzt an der Harvard University forschte, entdeckte sie dort Ende der 1990er-Jahre. Bei einem Staatsbesuch von Gerhard Schröder schenkte die ukrainische Regierung dann 280.000 Notenseiten zurück, darunter viele Werke von Telemann und der Bach-Familie. Die Rückgabe war mit der Hoffnung auf eine weitere Annäherung der Ukraine an die EU verbunden. "Und sie konnte wohl auch nur erfolgen, weil die Archivalien nie in deutschem Staatsbesitz gewesen waren, sondern einem privaten Verein, der Sing-Akademie, gehörten", sagt Filips. Die ukrainische Regierung konnte es so trotz des hohen Symbolwerts vermeiden, in eine generelle Diskussion über die Rückgabe von Beutekunst einzutreten. Es ist im Übrigen bis heute die einzige Rückgabe geblieben. Ein Teil der Sammlung, sämtliche Werke mit einem Bezug zur osteuropäischen Musiktradition, befindet sich weiterhin in der Ukraine und wurde dem Archiv in Kiew als Zeichen des Dankes für die jahrzehntelange Aufbewahrung überlassen. "Wir wissen auch nicht genau, wie die Musikalien in der ehemaligen Sowjetunion genutzt wurden", sagt Filips. "Einzelne Werke, die zur Sammlung gehören, wurden nachweislich aufgeführt. Wir würden uns freuen, den Kontakt wieder zu intensivieren und mehr über diese Praxis zu erfahren." Musik-, Politikwissenschaftler·innen und Historiker·innen werden der Sammlung wohl viele ungelüftete Geheimnisse entlocken, wenn sie erst einmal digitalisiert ist. Umgekehrt erstaunt es, wie ein profaner Alterungsprozess, der Tintenfraß, einen Mantel über Musik und Geschichte legen kann. Es ist nicht nur das Vergessen, das den Brückenschlag zwischen Vergangenheit und Gegenwart erschwert. Es ist auch der Verfall.