Als Kuratorin und Leiterin des Bereichs Ausstellungen, Forschung und Publikationen am Georg Kolbe Museum betreut Dr. Elisa Tamaschke ein wegweisendes Forschungsprojekt zum Nachlass des Bildhauers. Im Fokus steht insbesondere dessen Wirken zur Zeit des Nationalsozialismus. Im Gespräch erzählt Tamaschke, wie das Museum an den Nachlass kam und wie er in Kooperation mit der KEK erhalten wird. 

KEK: Im Jahr 2019 stieß Ihr Museum auf einen bis dahin unbekannten Nachlass Georg Kolbes. Woraus besteht der Fund und was macht ihn so sensationell?

Elisa Tamaschke: Die Rückkehr dieses Teilnachnachlasses ans Museum komplettiert den Nachlass Georg Kolbes weitestgehend – allein das ist sensationell. Der Bildhauer hatte die Zugänglichkeit seines Atelierhauses und seines Nachlasses für die Öffentlichkeit testamentarisch bestimmt. 1947 (in seinem Todesjahr) bzw. 1950 (im Eröffnungsjahr des Museums) war der gesamte Nachlass noch in Berlin vorhanden, doch nahm seine Enkeltochter Maria von Tiesenhausen gewichtige Teile davon während ihrer Direktionszeit in den 1970er-Jahren mit nach Kanada, wo sie lebte. Der Nachlass wurde also zerrissen und niemand wusste in der Folge, was in Kanada war, denn es gab kein Inventar der Dokumente. Die mehr als 3.000 Briefe, viele davon aus der Zeit des Nationalsozialismus, darunter z. B. viel Geschäftspost mit dem Kunsthandel, Kalender, Adressbücher, Fotografien und Kunstwerke, bedeuten eine enorme kunsthistorische Bereicherung nicht nur Kolbe betreffend, sondern insgesamt für die Kunstgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland.

Ein Forschungsprojekt, das die Quellen systematisch auswertete, kam kürzlich zum Abschluss. Was sind die wichtigsten Erkenntnisse?

Für unser Forschungsprojekt luden wir 2021 eine Gruppe herausragender Kunsthistoriker∙innen ein, um das neue Material im Zusammenschluss mit dem bekannten Nachlassteil und weiteren Archivalien unter dem Gesichtspunkt des Lebens und Arbeitens Kolbes während des Nationalsozialismus zu untersuchen. Wir haben aufbauend auf den aufschlussreichen Ergebnissen der Kolleg·innen mit ihnen eine Tagung veranstaltet und nun ist im Gebr. Mann Verlag die Publikation mit den Aufsätzen erschienen. Die neuen Forschungen erweitern u.a. unseren Blick auf Kolbes Verhältnis zu den Mächtigen, auf seine Kunstmarktstrategien und auch seine medialen Selbstvermarktungsstrategien. Wir wissen nun, dass er sich dem nationalsozialistischen System deutlich stärker angedient hat als zuvor bekannt und festgehalten.

Brief mit farbiger Zeichnung
In Georg Kolbes Nachlass befindet sich u.a. dieser illustrierte Brief von Max Pechstein. © Nikolaus Hausser

Im Rahmen eines KEK-Projekts wurde der Nachlass konservatorisch bearbeitet. Welche Rolle spielte die Verfügbarkeit der Quellen im Original? 

Für das Museum war es ein herausragender Moment, nach dem Tod der Enkelin Kolbes diese Fülle an inhaltlich hochrelevanten Materialien zu erhalten. Doch ist sicher gut vorstellbar, dass nach ca. 40 Jahrzehnten nicht professioneller Aufbewahrung viele der Dokumente restaurierungswürdig waren. Wir sind sehr dankbar, durch die Förderung der KEK in der Lage gewesen zu sein, alles restaurieren zu lassen und somit sicherzustellen, dass die Materialien in Zukunft für die Forschung und für Ausstellungen zur Verfügung stehen. Dabei ist im Zeitalter der Digitalisierung selbstverständlich auch unser Ziel, Abbildungen der Dokumente über unsere Datenbank Kolbe Online weltweit zugänglich zu machen. Ohne restauratorisch gesicherte Originaldokumente wäre deren Nutzbarkeit und die Digitalisierung aber nicht möglich. Zudem ist klar: Das Originaldokument steht immer in einem archivalischen Zusammenhang – die Einsicht des Originals ermöglicht somit häufig den so wichtigen Blick nach links und rechts, der im digitalen Raum schwerer möglich ist.

Welche Bedeutung hat die Auseinandersetzung mit Künstlerbiografien in der NS-Zeit für Museen im Allgemeinen? 

Das Georg Kolbe Museum gehört zur kleinen Gruppe von Museen in Deutschland, die einem Künstler bzw. einer Künstlerin gewidmet sind. Bei uns kommt die Besonderheit hinzu, dass Kolbe die Museumsgründung testamentarisch selbst verfügt hat. Sein Leben und Schaffen zwischen 1933 und 1945 möglichst tief zu erforschen, ist deshalb eine besondere Verpflichtung, weil wir Kolbe selbstverständlich verbunden sind und ihn trotzdem kritisch hinterfragen wollen und müssen. Für uns als Institution bedeutet dies einen entscheidenden Schritt für die gegenwärtige und zukünftige Arbeit. Es ist uns wichtig, diese reflektierte und kritische Forschungsarbeit fortzuführen und externe Forschung zu unterstützen. Vermeintlich unbequeme Fragen und Antworten, die (nicht nur) angesichts der neuen Quellen aufkommen, lassen uns die Geschichte der 1930er- und 1940er-Jahre neu vergegenwärtigen. Durch die tiefergehende Auseinandersetzung mit einer Künstlerbiografie im Nationalsozialismus wird deutlich, dass es ein einfaches Schwarz-Weiß in der retrospektiven Einschätzung eines Menschenlebens nicht geben kann. Die Komplexität von Kolbes Leben und Werk steht Vereinfachungen diametral entgegen, wie sich exemplarisch am neuen Bestand zeigen und noch weiter erforschen lässt.