Wie verändert sich die Wissenschaft durch die digitale Transformation? Welche neuen Blicke ergeben sich, wenn komplexe Datensysteme Zusammenhänge erschließen, die mit menschlichen Sinnen allein nicht erfassbar und mit herkömmlichen wissenschaftlichen Methoden nicht analysierbar sind? Ein interdisziplinäres Projekt in Potsdam verbindet eine typische Restaurierungsförderung der Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts (KEK) mit einem digitalen Pilotprojekt, das Theodor Fontanes Bibliothek in einer Visualisierung umfassend erschließt. Die Handbibliothek wird in ihrer einmaligen Form bewahrt, gleichzeitig werden die Originale in digitaler Form neu aufbereitet.

Digitale Neuausrichtung im Archiv

Materialerhalt und innovative Digitalisierungsstrategie gehen Hand in Hand. Für Dr. Peer Trilcke, Juniorprofessor für deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts und Leiter des Theodor-Fontane-Archivs an der Universität Potsdam, ist die Gleichberechtigung und Verschränkung von Original und digitaler Weiterverarbeitung keine
neue Entwicklung, sondern unumgängliche, ja notwendige Archivpraxis: "Längst sind die Hälfte unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hier im Archiv mit Datenmanagement beschäftigt", berichtet der Literaturwissenschaftler. Schon seit 20 Jahren arbeitet das Archiv an der digitalen Neuausrichtung. "Digitalisierung ist für mich Bestandserhaltung und gleichzeitig erhöhen wir die kulturelle Teilhabe durch einen ortsunabhängigen Zugang", sagt Trilcke. "Fontane hat weltweit eine große Anhängerschaft, die wir erreichen wollen."

Hinter einer schweren Sicherheitstür im Keller des Fontane-Archivs liegen Potsdams bestgehütete Autografen, Korrespondenzen und Bücher. Es ist das Mekka der Fontaneforschung: originale Manuskripte, 1935 aus dem
Nachlass des Dichters erworben, beständig ergänzt durch originale Schriftstücke aus privaten Sammlungen und vom Autografenmarkt. Das Archiv hat der Restauratorin Katharina Engelmann eigens eine Werkstatt eingerichtet, in der sie die beschädigten Einbände der Handbibliothek festigt, alters- und nutzungsabhängige Beschädigungen revidiert. Mit Unterstützung der KEK werden Buchblöcke und Falze stabilisiert. Manche Buchrücken erfordern eine Teil- oder Vollrestaurierung. 

Restaurierung Manuskript
Eine Manuskriptseite wird beschwert, damit sich das Papier nicht wellt. © Jörg F. Müller

Ob digitale Handschriftensammlung oder Online-Bibliografie: Im Fontane-Archiv setzt man auf umfassende archivalische Dienstleistungen im digitalen Raum. Peer Trilcke betont die Verantwortung, die den kulturellen Institutionen durch die Digitalisierung erwächst. Er warnt davor, kommerziell orientierten, globalen Akteuren das Erschließen des kulturellen Erbes zu überlassen. "So einnehmend diese Angebote auf der einen Seite sind und so altruistisch sie wirken: Das Versprechen auf Teilhabe, das sie geben, ist genuin unzuverlässig", findet Trilcke. Jederzeit könne der Zugang beschränkt, die Spielregeln geändert werden. Trilcke sieht die öffentlichen Einrichtungen in der Pflicht, nachhaltige Teilhabe zu garantieren und als "Hüter von Metadaten" das kulturelle Erbe auf der Grundlage von Expertise und klaren Regeln zu erschließen und zu beschreiben.

Eine Datenbank für Lektürespuren

Gemeinsam mit dem Urban Complexity Lab (UCLAB) der Fachhochschule Potsdam hat das wissenschaftliche Team des Fontane-Archivs einen digitalen Prototyp entwickelt, der Fontanes überlieferte Handbibliothek auf visuelle Weise erschließt. Ein Großteil der Bände kam mit dem Nachlassankauf nach Potsdam. Durch Zukäufe wieder aufgetauchter Bücher Fontanes erweiterte man den Bestand in den vergangenen Jahrzehnten auf heute 155 Bände. Damit ist nur ein kleiner Ausschnitt der bei Fontanes Tod nach vorsichtiger Schätzung zwischen 600 und 700 Bücher umfassenden Sammlung wieder an einem Ort versammelt. Zahlreich sind in den Bänden die Lektürespuren Fontanes und weiterer Familienmitglieder sowie seines Freundeskreises erhalten. Sie reichen von Anstreichungen über Anmerkungen bis hin zu Korrekturen und Ergänzungen in Fontanes eigenen Publikationen. Die Handbibliothek nennt die Literaturwissenschaftlerin Dr. Anna Busch "ein Archiv seiner Be- und Erkenntnisse, seiner Auseinandersetzung mit den eigenen Werken und mit – in erster Linie – zeitgenössischen Autoren".

Bibliothek
In Fontanes Handbibliothek findet sich auch eine Goethe-Werkausgabe. © Theodor-Fontane-Archiv Potsdam

Das Team des Fontane-Archivs setzte es sich gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen vom UCLAB zum Ziel, durch eine visuelle Aufbereitung der Sammlung neue Zugänge zu entdecken und Muster erkennbar zu machen, die zu neuer Forschung anregen. Welche Querverweise oder Auffälligkeiten werden erst in der visuellen Annäherung sichtbar? Wie las Theodor Fontane? Lassen sich autorenspezifische Lesemuster in Fontanes Büchern erkennen? Lässt sich ein Zusammenhang zwischen Textgenre und Lektürespuren feststellen? Las Fontane Goethe womöglich intensiver als Schiller? War Fontane ein ebenso kritischer Leser eigener wie fremder Werke? Fragen, die sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am Anfang des Projekts stellten. Die Verknüpfung und Interpretation der handschriftlichen Spuren in den Fontanebänden erforderte eine komplexe Erfassung und Kategorisierung der Eintragungen. "Besonders interessant ist die enge Verzahnung von Lesen und Schreiben in ihrer poetologischen Dimension", meint Anna Busch. "Für die Rekonstruktion von Aneignungsprozessen und Arbeitsweisen sind die umfangreichen Lektüre- und Schreibspuren sehr hilfreich."

Keine erkennbare Bearbeitung wurde ausgespart

Um verschiedene Metadaten abzufragen, sind in den gängigen Bibliothekssystemen eine Vielzahl an Operationen notwendig. Lese- und Gebrauchsspuren sind in den seltensten Fällen erfasst. Alle autografen Indizien im Gesamtzusammenhang zu betrachten, bleibt unmöglich. Das Potsdamer Team identifizierte für den digitalen Prototyp An-, Unter- und Durchstreichungen, Markierungen, Kommentare, Verweise, Stempel, Abdrücke, Eselsohren, Fingerabdrücke, Einlagen und Eingeklebtes: Keine erkennbare Bearbeitung, am besten noch mit einer Zuordnung zum Verursacher, wurde ausgespart. Das Projektteam interessierte sich für den Nachvollzug kreativer Lektüre- und Gebrauchspraktiken. Die Kulturwissenschaftlerin Viktoria Brüggemann vom UCLAB sieht in der digitalen Repräsentation von kulturellen Sammlungen "den großen Vorteil, dass sie ein abstraktes Muster offenlegen kann, aber gleichzeitig auch ins Detail geht. Das ist ganz anders als beispielsweise im Museum, wo man meist auf Abstand zu den Objekten gehalten wird".

Screenshot UCLAB
In farbigem Verlauf werden die Lese- und Gebrauchsspuren sichtbar. © UCLAB/Theodor-Fontane-Archiv Potsdam

Literaturwissenschaftler Peer Trilcke will mit dem digitalen Prototyp "das Häufige erkennen wie das Einzigartige". Im experimentellen Ansatz sieht er auch die Chance, kreative Forschungsansätze zu formulieren. "Katalogartige Angebote bieten immer nur einen eingeschränkten Zugang", sagt der Fontane-Spezialist. "Man muss wissen, was man sucht. Ich nenne das den Imperativ des Google-Suchschlitzes. Ein Überblick über das Ganze ist so nicht möglich." Bildimpulse sollen eigene Fragestellungen erzeugen. Die digitalen Geisteswissenschaften entdecken quantitative, statistische Zugänge und entwickeln abstrakte Modelle aus ihren neu gewonnenen Daten. "Den Blick auf die Sammlung brechen durch algorithmische Berechnung" nennt Trilcke das und ergänzt sofort: "Natürlich bewahren wir uns eine Grundskepsis gegenüber den Algorithmen." 

Mark-Jan Bludau, der den Prototyp am UCLAB programmiert hat, reizt besonders, dass sowohl ein fachkundiges als auch ein fachfremdes Publikum Zugang zu Fontanes Bibliothek finden kann: "Wir stellen uns Besuchende unserer Website vor wie richtige Museumsbesuchende – also jemand, der durch die Sammlung flanieren will. Der fragt ja auch nicht schon an der Museumskasse nach einem bestimmten Kunstwerk, zu dem er dann geführt wird." Bludau achtete bei der Entwicklung besonders darauf, dass die Nutzerinnen und Nutzer im digitalen Tool nicht unverhofft stranden: "Wir wollten Sackgassen vermeiden und verhindern, dass man irgendwo nicht weiterkommt." Mit der Visualisierung der Handbibliothek wollen die Forscherinnen und Forscher neue Fragen an die Sammlung stellen: Bestandserhaltung, Datenerfassung, visuelle Forschung und Philologie machen Fontanes Handbibliothek mehr denn je als das vielschichtige Gebilde sichtbar, das sie ist.