Europas Kulturerbe ist in seinem materiellen Erhalt vielfach bedroht. Für das schriftliche Kulturgut sind vor allem Gefahren wie Säurefraß, Tintenfraß oder Schimmel virulent. Die Fraunhofer-Gesellschaft ist mit ihren Instituten die führende Organisation für angewandte Forschung im Bereich Konservierung. Wir haben Dr. Johanna Leissner, wissenschaftliche Vertreterin der Fraunhofer Institute in Brüssel, zur Bedeutung der Forschung für den Erhalt des Kulturerbes befragt.

KEK: In Ihrer Funktion als wissenschaftliche Vertreterin der Fraunhofer Institute in Brüssel setzen Sie sich für die Erhaltung des kulturellen Erbes in Europa ein. Welche Projekte der Fraunhofer Institute sind aus Ihrer Sicht besonders relevant, um schriftliches Kulturgut im Original erhalten zu können?

Johanna Leissner
Johanna Leissner. © privat

Leissner: Derzeit beschäftigen wir uns mit  der Stabilisierung brüchiger holzhaltiger Papiere. Wir verwenden dazu neuartige, biopolymerbasierte Materialien, die teilweise elektronenstrahlbehandelt werden, um die Papiere vor dem Zerfall zu bewahren. Wie Ihnen bei der KEK besonders gut bekannt ist, ist Archiv- und Bibliotheksgut aus Holzschliffpapier herstellungsbedingt mit Schwefelsäureresten belastet, wodurch der chemische Abbauprozess enorm beschleunigt wird. Dies ist ein weltweites, sehr akutes Problem. Schon vor einiger Zeit wurden nachhaltige Entsäuerungstechnologien entwickelt und auch erfolgreich eingesetzt. Zur erneuten Gebrauchsfähigkeit und anhaltenden Stabilisierung der stark abgebauten entsäuerten Papiere wird die klassische Nachleimung mittels teilweise elektronenstrahlbehandelter biopolymerbasierter Materialien technologisch und ökonomisch so optimiert, dass ein massentaugliches maschinelles Verfahren entsteht, das in Zugfestigkeit, Biegsamkeit und Falzbarkeit den Werten der sehr kostenintensiven konservativen Restaurierungsmethode, der Papierspaltung, nahekommt. Ein anderes Thema der Papiererhaltung, an dem wir arbeiten, betrifft die virtuelle Rekonstruktion: Kriegsbedingte Wasserschäden erzeugten an mittelalterlichen  Handschriften teilweise "Verblockungen". Diese Schäden entstanden in Folge der Lagerung im zweiten Weltkrieg und werden im Wesentlichen durch Pilzbefall (Hyphen) und gealterte gegenseitig verschränkte Zellulosefasern verursacht, die die Seiten und Fragmente "zusammenkleben". Die Lösung der Verblockungen ist eine große Herausforderung und braucht weitere Forschung, denn bisher können sie nur per Hand in mühevoller, zeitraubender Arbeit gelöst werden. Die anschließende Restaurierung der Originale erfolgt dann in zwei Schritten: Die originalen Fragmente werden digitalisiert und mit Hilfe eines Software-Algorithmus zugeordnet; diese Digitalisate dienen sozusagen als "Puzzlevorlage". Die Fragmente werden anschließend durch geeignete Biopolymere entlang den Rändern mittels maschinell geführter Auftrags- und Strahltechnik vernetzt.

KEK: Welchen Beitrag kann Wissenschaft und Forschung für den Erhalt unseres kulturellen Erbes auf internationaler Ebene leisten?

Leissner: Um unser historisches Erbe nachhaltig zu bewahren, brauchen wir Forschung und Innovation. Denn die zu bewältigenden Herausforderungen wie Klimawandel, Umweltverschmutzung oder die Energieeffizienz historischer Gebäude sind so komplex und erfordern Hochtechnologien und multidisziplinäre Teams. Die dafür benötigte Expertise kann kein Land alleine vorhalten, so sind internationale (europäische) Forschungskooperationen unabdingbar. Seit über 30 Jahren leistet die Europäische Union mit ihrem Kulturerbeforschungsprogramm einen enorm wichtigen Beitrag zum nachhaltigen Schutz unseres gemeinsamen Erbes. So hat zum Beispiel die von der EU geförderte erfolgreiche Entwicklung der Lasertechnologie in der Restaurierung zur Gründung von mehr als 30 kleinen und mittleren Unternehmen in Europa geführt und viele hochqualifizierte Arbeitsplätze geschaffen. Das europäische Programm zur Kulturerbeforschung ist weltweit einzigartig und viele andere Länder und Regionen beneiden uns darum. Es hat wesentlich zur Vernetzung der europäischen Fachkompetenz sowie zur Weiterentwicklung von Erhaltungsstrategien für gefährdete Kulturgüter auf Basis aktueller Forschungsergebnisse und Innovationen beigetragen. Auch im Bereich schriftliches Kulturgut hat die EU viele Projekte gefördert. Dank kontinuierlicher EU-Förderung seit 1986 konnten in diesem Bereich bislang mehr als 250 internationale Projekte mit mehr als 500 Institutionen, Organisationen und vor allem kleinen und mittleren Unternehmen erfolgreich umgesetzt werden.

Scanstrasse
Diese Scanstraße von CultLab3D erhielt 2018 den Europa Nostra Forschungspreis. © Fraunhofer IGD, Darmstadt

Die europäische Forschungsförderung ermöglichte es gerade auch deutschen Forschungsinstitutionen, hochinnovative Projekte wie 3ENCULT ("Efficient Energy for EU Cultural Heritage") oder Climate for Culture ("Impacts of Climate Change on Historic Buildings") als Koordinatoren im Wettbewerb nach Deutschland zu holen. Darüber hinaus sind als Partner in EU Projekten viele weitere deutsche Einrichtungen eingebunden. Damit ist Deutschland, das seit über 30 Jahren an der Kulturerbeforschung erfolgreich beteiligt ist, bei der der Einwerbung von Forschungsgeldern im Kulturerbesektor auf dem zweiten Platz in Europa. Neben diesen Erfolgen war es zudem möglich, das Anliegen einer profunden Nachwuchsförderung in einmaliger Weise länderübergreifend zu transportieren und auch hier hoch qualifizierte Arbeitsplätze zu schaffen. Um die Bewahrung des historischen Erbes für nachfolgende Generationen weiterhin zu gewährleisten, bedarf es jedoch einer kontinuierlichen Kulturerbeforschung, die mit dem Wandel der Zeit Schritt hält und Innovationen hervorbringt.

KEK: Die europäischen Länder sind von ihren Strukturen, finanziellen Möglichkeiten und nationalen Priorisierungen sehr heterogen. Wie kann die Koordinierung der Erhaltung des kulturellen Erbes in Europa trotzdem gelingen?

Leissner: Die Vergangenheit hat hier schon viele gute Wege aufgezeigt – in Europa gibt es bereits viele verschiedene Programme, an denen die unterschiedlichsten EU Länder erfolgreich teilnehmen, wie das bereits erwähnte EU Forschungsprogramm, aber auch das EU Kulturprogramm, welches von 2007 bis 2013 etwa 3,2 Milliarden Euro aus dem Europäischen Regionalförderungsprogramm für Kulturguterhaltung investiert hat. Weitere 1,2 Milliarden Euro wurden für das ländliche Kulturerbe aus dem Agrarfonds der EU ausgegeben. Nicht unerwähnt sollen die drei bedeutendsten Kulturerbeaktivitäten der EU bleiben: Die europäischen Denkmaltage, der EU Preis für Kulturerbe, und das EU Denkmal Label "European Heritage Label". Die Europäische Union fördert und unterstützt das Kulturerbe in den Mitgliedstaaten in einem großen Ausmaß, was aber leider oft nicht als Erfolg der EU bei den Menschen vor Ort oder in den Medien ankommt.

KEK: Das Europäische Kulturerbejahr verschafft dem Erhalt des Kulturerbes in diesem Jahr eine große Bühne in Öffentlichkeit und Politik. Einer der Höhepunkte war der European Cultural Summit im Juni in Berlin. Wie lässt sich diese Aufmerksamkeit und Wertschätzung auch für die nächsten Jahre und vielleicht Jahrzehnte nachhaltig aufrechterhalten?

Leissner: Das Europäische Jahr des Kulturerbes 2018 zeigt schon erste Früchte, was die Forschung angeht. So hat die Europäische Kommission in ihrem kürzlich veröffentlichten ersten Vorschlag für das kommende Forschungsrahmenprogramm Horizon Europe ab 2021 das Thema Erhaltung des Kulturerbes prominent im Cluster "Secure and resilient societies" verankert. Das Europäische Parlament setzt sich zudem für die Schaffung einer sogenannten Cultural Heritage Cloud ein, die mit 100 Millionen Euro gefördert werden soll. Auch in Deutschland ist die Kulturerbeforschungsgemeinde aktiv und plädiert für ein nationales, multidisziplinäres Forschungsprogramm, da das europäische Programm allein nicht für die gewaltigen Herausforderungen bei der Erhaltung des Kulturerbes genügt. Über 90 Experten haben in der Woche des European Cultural Heritage Summits in Berlin einen Appell "Eine Zukunft für unsere Heimat: Forschung für den Erhalt des Kulturerbes" im Rahmen der Konferenz "Quo vadis Konservierungswissenschaften" unterzeichnet. Dieser Appell wurde Anfang Juli an Bundeskanzlerin Merkel, an Bundespräsident Steinmeier und an den Vorsitzenden Rossmann des Bundestagsausschusses Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung gesendet.

2018 European Year of Cultural Heritage

Ein nationales Forschungsprogramm ist trotz der europäischen Forschungsförderung dringend nötig, da vor über 20 Jahren das letzte Programm für die Forschung zur Erhaltung des Kulturerbes in Deutschland ausgelaufen ist. Dadurch hat Deutschland den Anschluss an die internationale Spitze im Bereich der wissenschaftlichen Veröffentlichungen verloren, vor allem bei der Nachwuchsförderung gibt es einen dringenden Nachholbedarf. Ein neues, nationales Forschungsprogramm leistet durch die Einbeziehung aller wichtigen Akteure inklusive der Zivilgesellschaft und der jungen Generation einen wesentlichen Beitrag zum Zusammenhalt unserer Gesellschaft, es fördert die Wertschätzung und leistet somit einen Beitrag zur Erreichung der Nachhaltigkeit.