Schriftgut, das in Kirchen und Klöstern verwahrt wird, ist eine wichtige Quelle für die Erforschung von Geschichte, Kultur und Religion Europas. Deshalb bemüht sich Alessandra Sorbello Staub, Leiterin der Bibliothek des Bischöflichen Priesterseminars Fulda, um eine grenzübergreifende Zusammenarbeit im Bereich Originalerhalt. Wir haben sie gefragt, vor welchen Problemen kirchliche Einrichtungen stehen und wie ihnen in Zukunft begegnet werden kann. 

KEK: Das Schriftgut, das bundesweit in Kirchen und Klöstern lagert, ist einzigartig. Wie gut sind die Bestände dokumentiert und erhalten?

Alessandra Sorbello Staub: Es gibt kein einheitliches Bild der kirchlichen Einrichtungen. Erschließung und Erhaltung der historischen Bestände sind von der Größe, Beschaffenheit und Funktion der bewahrenden Einrichtungen abhängig sowie auch von der Frage ihrer Zugänglichkeit. Viele der größeren kirchlichen Bibliotheken sind öffentlich zugänglich. Sie haben eine große Sichtbarkeit, weil sie etwa an Verbünde angeschlossen sind und sogar eigene Digitalisierungsplattformen betreiben. Andere stellen beispielsweise ihre Katalogdaten über den Verbundkatalog Theologie und Kirche zur Verfügung. In kleineren Einrichtungen liegt die Erschließung teilweise noch in Form von Zettelkatalogen vor. Viele davon sind nur auf Anfrage zugänglich. Die Erhaltung der Bestände hängt ebenfalls von den Gegebenheiten vor Ort ab. Viele Einrichtungen sind an historischen Standorten untergebracht. Dies stellt die Träger – etwa bei der Einhaltung der klimatischen Bedingungen bzw. bei der Gebäudesicherung – immer vor größere Herausforderungen. Die Altbestandskommission hat in den vergangenen Jahren im Rahmen eines KEK-Modellprojekts eine spartenübergreifende Umfrage in 427 kirchlichen Einrichtungen durchgeführt mit dem Ziel, die Daten aus den kirchlichen Einrichtungen als Ergänzung zur Phase 1 der von der KEK herausgegebenen "Bundesweiten Handlungsempfehlungen" zu veröffentlichen. Darüber hinaus wollte das Projekt die kirchlichen Träger für das Thema sensibilisieren sowie Know-how-Transfer in den kirchlichen Einrichtungen ermöglichen. Die Ergebnisse des Projektes liegen seit Juli in einer Broschüre vor, die über den gemeinsamen kirchlichen Dokumentenserver KiDoKS online frei zugänglich ist.

historische Bucheinbände
Im BKM-Sonderprogramm wird aktuell der Buchbestand des Adeligen Klosters Preetz in Schleswig-Holstein restauriert. © Adeliges Kloster Preetz

Was sind die wichtigsten Aufgaben, die jetzt angegangen werden müssen, um Kirchen- und Klosterschriften langfristig zu sichern?

Ein immer wiederkehrendes Thema ist die Sichtbarkeit der historischen Bestände in kirchlicher Trägerschaft und ihre Erschließung. Vor allem im Falle der Ordensgemeinschaften gibt es zurzeit kaum überwindbare strukturelle Probleme, etwa mit dem Nachwuchs. Darüber hinaus sind gerade dort Bibliotheken und Archive häufig eine Aufgabe unter vielen anderen. Des Weiteren kommt es aufgrund des fehlenden Nachwuchses zunehmend zur Auflösung von Niederlassungen und zur Konzentration von Standorten. Größere Ordensgemeinschaften haben in den vergangenen Jahrzehnten bei ihren Buchbeständen Strategien der Verdichtung und der Zusammenführung entwickelt und agieren dabei teilweise sogar international: Sammlungen können manchmal an andere Niederlassungen oder Ordensgemeinschaften transferiert werden und das selbst über Landesgrenzen hinweg. Andere vertrauen sich einer größeren kirchlichen bzw. staatlichen Bibliothek vor Ort an. In vielen anderen Fällen handelt man allerdings zu spät und aus der finanziellen Not heraus. Manche Firmen haben daraus ein erfolgreiches Geschäftsmodell gemacht und sich in der betriebswirtschaftlichen Begleitung von Fusionsprozessen und der Neuorganisation von Standorten von Ordensgemeinschaften spezialisiert. In der finanziellen Verhandlungsmasse einer Standortauflösung spielen Bibliotheken in der Regel nur eine sehr geringe Rolle und dies trotz aller schriftlichen Verpflichtungen zur Bewahrung ihres kulturellen Erbes. Die Abwanderung von Beständen und die Vermeidung von Totalverlusten bleibt eine große Herausforderung.

Viele dieser Bestände sind über Jahrhunderte in Sprach- und Kulturräumen gewachsen, die heute von Nationalgrenzen getrennt werden. Wie häufig arbeiten Sie in einem europäischen Kontext?

Die beiden kirchlichen Bibliotheksverbände arbeiten nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern traditionell auch grenzübergreifend. Der Austausch mit Kolleg·innen aus Österreich, aus der Schweiz bzw. aus dem italienischen Südtirol gehört zum Berufsalltag und ist auch sehr bereichernd. Eine europaweite Zusammenarbeit lässt sich auch für die Orden feststellen, denn manche Ordensprovinzen erstrecken sich über die Landesgrenzen der Bundesrepublik hinweg.

verstaubte Akten
In Nürnberg wurden im BKM-Sonderprogramm 2017-2019 Schriftgut aus Pfarrarchiven entstaubt und verboxt. © Landeskirchl. Archiv der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern

Sie sind auch Sprecherin der Altbestandskommission der kirchlichen Bibliotheksverbände. Welche Themen beschäftigen Sie aktuell?

Die Altbestandskommission ist eine gemeinsame Kommission beider kirchlicher Bibliotheksverbände (Arbeitsgemeinschaft katholisch-theologischer Bibliotheken und Verband kirchlich-wissenschaftlicher Bibliotheken). Zur Kommission gehören derzeit zehn ehrenamtliche Mitglieder aus kirchlichen Archiven und Bibliotheken und zwei Experten aus staatlichen Bibliotheken. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht die Beratung der Mitgliedsbibliotheken in allen Fragen rund um die historischen Bestände. Viele der kirchlichen Einrichtungen können sich in puncto Altbestand kein Fachpersonal leisten. Zu den Aufgaben der Kommission gehören daher neben der Beratung auch die Vermittlung von Fachkenntnissen und die Qualifizierung des Personals. Aus diesem Grund wurden in der Vergangenheit eine Vielzahl von Fortbildungsveranstaltungen – etwa in Kooperation mit dem Arbeitskreis für die Erschließung historischer Einbände, mit der ehemaligen AG Handschriften und alte Drucke der Sektion 4 im dbv oder mit der dbv-Kommission Bestandserhaltung – initiiert. Die Themenschwerpunkte gingen von der Verzeichnung von Einbänden aus der Wende von Historismus zu Jugendstil über den Umgang mit Fragmentbeständen bis hin zu den Grundlagen der Bestandserhaltung und Erschließung historischer Drucke. Das letzte große Projekt der Kommission befasste sich mit der Erfassung von Daten aus den kirchlichen Einrichtungen als Ergänzung der "Handlungsempfehlungen" der KEK. Die Themen für die kommenden Jahre ergeben sich teilweise daraus. So möchte die Kommission sich u.a. den Themen Sichtbarkeit von Pfarrbibliotheken, Abwanderung von kirchlichen Beständen mit besonderer Berücksichtigung der Klosterbibliotheken sowie Möglichkeiten des Eintritts in Notfallverbünde für kleinere Einrichtungen widmen.

Kulturgut soll Jahrhunderte, wenn nicht gar Jahrtausende überdauern. Was sind die größten Herausforderungen für den Originalerhalt im 21. Jahrhundert?

Auch wenn das Thema Digitalisierung für kirchlichen Bibliotheken nicht im Vordergrund steht, scheint es mir an dieser Stelle wichtig, das Thema Digitalisierung zu nennen. Die große Herausforderung besteht darin, den Spagat zwischen Originalerhalt und Digitalisierung zu meistern. Digitalisierung kann eine Form der Bestandssicherung darstellen, ersetzt jedoch Originalerhalt nicht. Darüber hinaus können Digitalisate die Originale als Informationsträger in vielen Fällen nicht ersetzen. Fuldaer Kodizes beispielsweise erleben derzeit zunehmendes Interesse als nicht ausreichend erforschte Quelle für die althochdeutsche Lexikografie. Griffelglossen lassen sich allerdings nur am Original untersuchen. Das ist sicherlich ein Paradebeispiel für die Grenzen auch der bestandsichernden Digitalisierung, die viel zu oft kleingeredet werden.