Notfallvorsorge wird für Archive und Bibliotheken immer wichtiger. Das katastrophale Hochwasser im Sommer 2021 und der Ukrainekrieg haben die Dringlichkeit des Themas deutlich vor Augen geführt. Als Abteilungsleiter des Hessischen Landesarchivs – Hessisches Staatsarchiv Marburg hat Dr. Johannes Kistenich-Zerfaß die Gründung des Notfallverbunds Marburg maßgeblich vorangetrieben. Wir haben ihn gefragt, wie effektiver Kulturgutschutz und die gegenseitige Unterstützung im Verbund funktionieren können.
KEK: Extremwettereignisse und Flutkatastrophen stellen den Kulturgutschutz vor Herausforderungen. Wie können sich auch kleine Einrichtungen besser vorbereiten?
Johannes Kistenich-Zerfaß: Extremwetterlagen sind an sich nichts Neues. Hier kommen insbesondere die Hochwasserkatastrophen der letzten 30 Jahre in den Sinn, bei denen wir erlebt haben, dass Infrastrukturen innerhalb weniger Stunden zerstört werden können und dass sich deren Wiederaufbau über sehr lange Zeiträume hinzieht. Gleichwohl sind die Initiativen für Notfallverbünde überwiegend von gebäudespezifischen Katastrophen ausgegangen, insbesondere jenen in Weimar (Großbrand der Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek) und Köln (Einsturz des Historischen Archivs). Gegenwärtig wird wieder verstärkt und auch in Bezug auf kleine Einrichtungen über Notfallvorsorge nachgedacht, ganz konkret nach der Hochwasserkatastrophe im Sommer 2021, da kleine Einrichtungen oft nicht in der Lage sind, ein größeres Schadensereignis selbstständig zu bewältigen. Es fehlt z.B. an professionellem Gerät oder fachkundiger Unterstützung. Gerade die kleinen Einrichtungen profitieren daher stark von der seit etwa 2004 eingesetzten Entwicklung hin zu mehr Notfallverbünden. Denn im Zusammenschluss mit größere Einrichtungen profitieren sie auch von deren Ausrüstung und Know-How.
Erst kürzlich haben sich Marburger Kultureinrichtungen zu einem Notfallverbund zusammengeschlossen. Wie kam es zu dieser Entscheidung?
Bereits seit 2015 gab es die Idee, dass sich mehrere Kultureinrichtungen im Raum Marburg zu einem Notfallverbund zusammenschließen könnten. Nach dem abgeschlossenen Umzug der Universitätsbibliothek ergriff diese gemeinsam mit dem Hessischen Staatsarchiv in Marburg die Initiative. Im April 2022 kam es schließlich zur Gründung des Verbunds mit zehn Einrichtungen. Binnen weniger Tage bekundeten bereits drei weitere Einrichtungen ihr Interesse am Verbund und werden nun ebenfalls aufgenommen. Neben Archiven und Bibliotheken sind auch Museen im Verbund vertreten, sodass die Verschiedenheit der Materialitäten in der Notfallvorsorge ein wichtiger Aspekt sein wird.
Wie ist der Notfallverbund strukturiert und welche Aufgaben erfüllt er?
Bei der Notfallvereinbarung haben wir uns textlich an den Formulierungen orientiert, die sich spätestens seit Gründung des Magdeburger Verbunds etabliert haben. In unserer Organisation gibt es wie in Magdeburg ein Sprechergremium, verteilt auf drei Einrichtungen. Neben der Universitätsbibliothek und dem Hessischen Staatsarchiv gehört das Herder-Institut diesem Gremium an. Es schützt davor, dass eine Einrichtung "voranprescht" und die anderen Beteiligten nur "hinterherrennen". In diesem System korrespondierender Röhren kann der Verbund immer nur so gut sein wie der Partner, der noch am wenigsten weit ist. Die Entwicklung gebäudespezifischer Gefahrenabwehrpläne war bereits vor der offiziellen Gründung eine Voraussetzung für den Beitritt. Im nächsten Schritt statten wir den Verbund so aus, dass wir einen begrenzten Schaden bewältigen können. Dafür stellen wir aktuell die Bedarfe der beteiligten Einrichtungen zusammen, was im kommenden Jahr in einen KEK-Modellprojektantrag münden wird. Glücklicherweise ist die Notfallvorsorge weiterhin ein Schwerpunkt in der Förderung. Dadurch werden wir in ein bis zwei Jahren in die Lage versetzt, mit einer ersten großen Übung Erfahrungen zu sammeln. Übung ist hier der Schlüssel: Denn erst, wenn man einmal mit eigenen Händen versucht hat, einen Stapel durchnässter Großformate von A nach B zu bringen – und zwar ohne dass neue Schäden entstehen –, wird man begreifen, was Erstversorgung bedeutet.
Warum ist die Kommunikation mit "Blaulichtorganisationen" wie Feuerwehr und THW so wichtig?
Es ist immer gut, von den Profis zu lernen. In diesem Fall also von denen, die tagtäglich für die Gefahrenabwehr zuständig sind. Für Notfallverbünde ist insbesondere interessant, wie Blaulichtorganisationen zwischen großen und kleinen Schadenslagen differenzieren. Einen Vorbildcharakter haben Blaulichtorganisationen auf allen Ebenen, z. B. freiwillige Feuerwehr, Kreisfeuerwehr oder auch das THW. Darüber hinaus ist der persönliche Kontakt entscheidend. Über Arbeitsgruppensitzungen stehen wir in direktem Austausch mit den Vertretern dieser Organisationen. Es ist enorm wichtig, dass man sich kennt und Gesichter mit Namen verbindet. Auch ist es lehrreich, über die konkrete Vorgehensweise bei Schadensereignissen unterrichtet zu werden. Es ist vielen Archivar·innen und Bibliothekar·innen z. B. nicht bewusst, dass ein Stapel brennender Unterlagen gegebenenfalls auch mit Spitzhacken auseinandergezogen wird, um Glutnester zu bekämpfen. Das erfahren wir erst im direkten Austausch oder durch reale Übungen. Insofern ist es von entscheidender Bedeutung, sich mit den Blaulichtorganisationen möglichst früh und regelmäßig auszutauschen.
Müssen wir den Kulturgutschutz angesichts kriegerischer Auseinandersetzungen komplett neu denken?
Seit dem 24. Februar 2022 haben wir auch im Feld des Katastrophenschutzes eine Zeitenwende erlebt. Die Gefahr kriegerischer Auseinandersetzungen ist auch in Deutschland wieder zu einem bestimmenden Thema geworden. In den ersten Tagen nach Kriegsbeginn wurde ein Bild des Theaters in Odessa neben eine Aufnahme desselben Gebäudes aus dem Jahr 1941 gesetzt. Bezeichnenderweise waren die Schutzmaßnahmen identisch, also etwa Sandsäcke oder Panzersperren. Hierzulande steht bereits ein deutsches Landesarchiv in Verhandlungen mit einem Salzbergwerk über einen Vorvertrag, um 25% seiner Bestände im Falle eines möglichen Angriffes vorbeugend unterbringen zu können. Ich glaube, wir werden uns in den nächsten Monaten wieder sehr intensiv mit diesen Themen auseinandersetzen müssen. Dabei sollten wir auch über die Erfahrungen vor 80 Jahren nachdenken – im Positiven wie im Negativen. Oder aber über die möglichen Alternativen, denn es gibt auch aus den Jahrzehnten der Nachkriegszeit bis heute durchaus kluge Ansätze. Ein Musterbeispiel ist das Gebäude des Hauptstaatsarchivs in Stuttgart. Es ist so konstruiert, dass sich im Falle eines Bombenangriffs der Schutt des Verwaltungstrakts über das Archivgut legt, sozusagen ein baulicher Selbstschutz. Deswegen wird es zwar keine neue Kulturbauinitiative geben, aber in bestimmten Fällen könnte über bauliche Ertüchtigungen nachgedacht werden. Eine weitere Variante wären Umlagerungen innerhalb eines Gebäudes, denn eine Verlagerung von Kulturgut in untere Geschosse kann im Notfall durchaus Sinn machen.