"'Knäckebrot-Papier', das zum Erhalt stabilisiert und gestützt werden muss"
Die Musikhandschriften des Komponisten Georg Philipp Telemann (1681–1767) waren aufgrund starker Schäden lange für die Nutzung gesperrt. Zwei KEK-Modellprojekte ermöglichten die exemplarische Restaurierung und Wiedernutzbarmachung. Im Interview sprechen Dr. Martina Rebmann, Leiterin der Musikabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin, und Christian Filips, Programmleiter und Dramaturg der Sing-Akademie zu Berlin, über die Bedeutung der Quellen.
Christian Filips: Das Archiv der Sing-Akademie basiert zu großen Teilen auf Carl Friedrich Zelters Sammlertätigkeit. Als zweiter Direktor der Sing-Akademie nach Carl Fasch hat er seine reiche, aus dem enzyklopädischen Geist der Aufklärung entstandene Musikaliensammlung 1832 dem Chor vermacht. Der Großteil der Telemann-Sammlung stammt ursprünglich aus den Beständen der Nikolaikirche in Berlin. Es handelt sich vor allem um handschriftliche Kantaten-Kopien von Jakob Dittmar, der dort Kantor war. Zelter war berühmt dafür, alte Notenbestände aus den umliegenden Kirchen zu retten, die sonst üblicherweise verfeuert worden wären. Bis 1943 befand sich die Sammlung sicher verwahrt im Dachstuhl des Hauses der Sing-Akademie, im heutigen Maxim-Gorki-Theater. Als der Luftkrieg Berlin erreichte, wurde der historische Notenbestand in das Schloß Ullersdorf nach Schlesien ausgelagert. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs stand das Gebiet unter polnischer Verwaltung. Niemand wusste, was mit dem Archiv passiert war. Es galt, wie Sie sagen, als vermisst. 1990 fand ein Team der Harvard University rund um Patricia Grimsted und Christoph Wolff heraus, dass das Archiv zu den von der Sowjetarmee beschlagnahmten Kulturgütern gehörte und sich fast vollständig in Kyiv befand.
Dr. Martina Rebmann: Als das Notenarchiv der Sing-Akademie nach Berlin zurückgekehrt war, galt das als bedeutender Erfolg in der Frage der Restitution von kriegsbedingt verbrachtem Kulturgut. Das Archiv gehört bis heute zu den wertvollsten Kulturgütern, die nach dem Fall der Mauer aus einem Land der früheren Sowjetunion nach Deutschland zurückgekehrt sind. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz hat die Rückführung diplomatisch, juristisch und technisch begleitet und unterstützt, auch Kollegen aus der Staatsbibliothek waren damals in der Ukraine, um den Bestand zu sichten und für den Rücktransport vorzubereiten.
Filips: Im Jahr 2000 entschied sich die ukrainische Regierung unter Leonid Kutschma, das Archiv der Sing-Akademie zurückzugeben. Die Sing-Akademie hat die Sammlung der Musikabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin im Dezember 2001 als Depositum übergeben, wo es seither verwahrt wird. Da insbesondere der Telemann-Bestand in keinem guten konservatorischen Zustand war, lag es nahe, für den Erhalt dieses wichtigen schriftlichen Kulturguts zu sorgen und ein Modellprojekt zu initiieren.
Rebmann: Durch die Rückführung nach Deutschland stand die Sammlung natürlich besonders im öffentlichen Interesse: von Beginn an wurden in der Musikabteilung daher auch Projekte initiiert, denn zunächst galt es, das Material in unseren Fachdatenbanken für Musikhandschriften und Musikdrucke zu katalogisieren. Der Bestand wurde aber nicht nur von der musikwissenschaftlichen Fachwelt, sondern auch von Musikerinnen und Musikern sehr beachtet und für Aufführungen genutzt. Daher haben wir begonnen, in einem gemeinsamen Projekt mit der Sing-Akademie und mit finanzieller Förderung sowie auch Drittmitteln der DFG den Bestand nun systematisch und komplett zu digitalisieren und kostenfrei weltweit im Internet zur Verfügung zu stellen. Diese intensive Benutzung, die das Archiv seit der Rückkehr in Berlin erfuhr, führte dazu, dass nicht nur den Aufbewahrungsbedingungen, etwa der Neuverpackung und Lagerung in Boxen, Aufmerksamkeit gewidmet werden musste, sondern eben auch die teilweise sehr besonderen Schadensbilder zu erheben und einen Plan für die Restaurierung zu entwickeln.
Rebmann: Kurz vorab noch, das ist uns ganz wichtig zu sagen, der Zustand der Materialien insgesamt war altersgemäß gut, die Aufbewahrungsbedingungen in der Ukraine entsprachen den Bedingungen der Bestände unserer Abteilung. Doch gab es Besonderheiten, die wir an anderen Beständen noch nicht gesehen hatten…
Filips: Der wesentlichste Schadensbefund bei den Telemannn-Beständen betraf Tintenfraß, vor allem in den Notenköpfen, wo der Auftrag der Eisengallustinte am stärksten ist. Vendulka Cejchan, die Restauratorin, die das Projekt geleitet hat, beschrieb als Besonderheit an diesem speziellen Schadensbild, dass die extreme Rissigkeit des Papiers auch an gar nicht beschriebenen Stellen gegeben war. Sie sprach von "Knäckebrot-Papier", das zum Erhalt stabilisiert und gestützt werden muss. Zu den zentralen Maßnahmen gehörte, soweit ich weiß, eine für jedes Blatt neu zu entscheidende chemikalische Behandlung mit Kalzium-Phytat, die den Tintenfraß verlangsamt, sowie das minimalinvasive Anbringen von Japanpapier.…
Filips: Der größte Teil des betroffenen Bestands besteht aus dem sogenannten Zellischen Jahrgang von Telemann aus dem Jahr 1730/31, benannt nach dem Textdichter Albrecht Jacob Zell. Er gilt als einer der kunstvollsten und schönsten kirchenmusikalischen oratorischen Jahrgänge von Telemann überhaupt und hat sich nur dieses einzige Mal, nur in dieser Berliner Kopie erhalten. Es handelt sich um knapp vierzig Kompositionen, fünf ausgewählte Oratorien daraus sind 2017 im Bärenreiter-Verlag erschienen. Weitere zwanzig Kantaten hat die Sing-Akademie in den letzten Jahren für ihre praktische Arbeit spartiert und stellt sie Interessierten gern bei Bedarf zur Verfügung. Durch die Restaurierung ist es nun möglich, auch die noch nicht gesichteten Kompositionen zu erschließen. Wir hoffen sehr, dass auch Notenverlage Interesse zeigen und dass die demnächst digitalisierten Handschriften in Konzerten und Gottesdiensten wieder zum Klingen gebracht werden.
Rebmann: …und in unserem gemeinsamen Projekt werden ja alle Musikhandschriften nach und nach digitalisiert. Das Projekt startete in diesem Jahr und hat eine Laufzeit bis Ende 2027. Es war also gut, etwas Vorlauf für die Restaurierung der Telemann-Handschriften zu haben, die nun aktuell nach und nach gescannt werden, schauen Sie gern selbst nach in unseren Digitalisierten Sammlungen: hier finden Sie den aktuellen Stand, 16 Telemann-Handschriften! Noch viel mehr wird zum Projektende recherchierbar sein: über 300.000 Seiten an Musikhandschriften, Notendrucken und sonstigem Archivbestand der Sing-Akademie werden wir bearbeiten und kostenfrei zur Verfügung stellen können.
Rebmann: Besonders berührt mich die Geschichte der Sammlung an sich – denn man sieht auf den Musikhandschriften so viele "Schichten" ihrer Geschichte: von den Aufschriften Zelters, oft mit farbigem Kreidestift, die er für die systematische Ordnung des Bestands anbrachte, über die Stempel der Sing-Akademie und die in der Ukraine angebrachten Stempel mit kyrillischen Buchstaben – dies alles sind "Jahresringe", die den Bestand "an sich" einzigartig machen!
Filips: Die Kantaten aus diesem Jahrgang finde ich alle sehr besonders, wegen ihrer "absurden Malereien", wie Lessing das treffend in einer Rezension beschrieben hat. Eine der Kantaten des Zellischen Jahrgangs, die wir in den letzten Jahren zur Aufführung gebracht haben, ist eine berührende Solo-Kantate für Bariton: "Fliehet hin, Ihr bösen Tage meines Lebens." Da folgt man hörend einem Wanderer, der wie ein Vorbote von Schuberts Winterreise erscheint. Er zieht durch die Welt, gerät in Ungewitter, wird von bösen Hunden vertrieben und befragt in offenen Theodizee-Akkorden einen Gott, der nicht zu hören scheint. Eine großartige Komposition, die völlig unbekannt war und deren einzige Quelle jetzt gesichert ist.
Foto © Jörg F. Müller