Als ehemaliger stellvertretender Generalsekretär der Kulturstiftung der Länder kennt Dr. Martin Hoernes die KEK schon seit ihrer Gründung. Doch nicht nur schriftliches Kulturgut bewegt ihn: Seit 2014 steht er der Ernst von Siemens Kunststiftung vor, die sich der Förderung der Bildenden Kunst widmet. Wir haben ihn gefragt, wie er sicherstellt, dass Kulturgut auch in Pandemiezeiten erhalten wird.
KEK: Schon im Frühjahr 2020 hat Ihre Stiftung eine Corona-Förderlinie für Freiberufler∙innen aufgelegt. Was zeichnet sie aus?
Martin Hoernes: Die große Geschwindigkeit, mit der die Förderprojekte auf den Weg gebracht wurden, ein absolut unkompliziertes und rein digitales Antrags- und Bewilligungsverfahren, das es auch kleineren Häusern ermöglicht, Anträge zu stellen, und schließlich eine aktuell gepflegte Homepage, die Projekte, Restaurator∙innen und Wissenschaftler∙innen vorstellte – wir wollten gerade zu Beginn der Pandemie positive Nachrichten für die Fachcommunity senden und zeigen, dass die Ernst von Siemens Kunststiftung sowohl an der Seite der Kultureinrichtungen als auch ganz besonders der um ihre berufliche Existenz kämpfenden, hochqualifizierten Freiberufler∙innen steht.
Welche der geförderten Projekte waren inhaltlich und fachlich besonders spannend?
Da muss ich mich beschränken – also nur eine Auswahl: Beim Nachlass des Naturforschers Wilhelm G. Tilesius von Tilenau in der Leipziger Kustodie interessierte uns die Restaurierung der detaillierten Zeichnungen – die ebenfalls fördernde KEK fokussierte sich vor allem auf den Erhalt der schriftlichen Informationen. Gemeinsam ist uns das Staunen über diesen opulenten und spannenden Bestand. Die Restaurierung von exemplarischen Wandmalereifragmenten aus der Römerstadt Nida machten den Fund bekannter und legten die Grundlage für eine zukünftige Rekonstruktion und Präsentation der Ausmalungen im Archäologischen Museum Frankfurt. Die teilweise zu 100% finanzierten Restaurierungen brachten lange nicht angegangene Problemfälle, teilweise sogar kunsthistorische Hochkaräter zurück in die Schausammlungen: "Paris und Oenone" von Jacob van Loo in Dresden oder ter Brugghens "Zecher" in München. Eine nie gezeigte kostbare Kasel des 13. Jahrhunderts aus dem islamischen Andalusien wird zuerst in einer Sonderausstellung in Hildesheim präsentiert und kehrt dann zurück ins Kunstgewerbemuseum Berlin. Zahlreiche bislang magazinierte Werke der Brücke-Künstler sind jetzt ebenfalls wieder zurück in den Schausammlungen oder können für Ausstellungen verliehen werden: Pechstein, Heckel und Kirchner in Berlin, Heckel, Schmidt-Rottluff und Kirchner in Duisburg. In Greifswald konnten beeindruckende Werke der Romantiker Caspar David Friedrich und Carl Gustav Carus restauriert werden. Ein zauberhaftes römisches Mumienporträt im Akademischen Kunstmuseum Bonn ist vor Schäden durch Altrestaurierungen bewahrt worden.
Ihre Förderlinie richtet sich nicht nur an Restaurator∙innen, sondern auch an Wissenschaftler∙innen. Welche Forschungsvorhaben haben Sie unterstützt?
Unsere schnellen Anschubfinanzierungen legten oft die Grundlage für langfristige Großprojekte an den Museen: Eine Wissenschaftlerin konnte in Erfurt das Projekt eines neuen Bestandskatalogs und der Restaurierung zahlreicher Werke von Friedrich Nerly d. Ä. auf den Weg bringen. Weitere Wissenschaftler∙innen arbeiten an Bestandskatalogen zu Franz Radziwill, Johann Christian Reinhart und zum Bildhauer Leonhard Kern. Durch die geförderte Archivierung des historischen Fotobestands der Aachner Domschatzkammer kann dieser ungehobene Schatz jetzt erstmals wissenschaftlich erschlossen werden. Die Arbeiten am Kölner "Cranach Digital Archive" können durch die Übernahme von Personalkosten für freie Wissenschaftler∙innen trotz Coronakrise weitergeführt werden usw. Wichtig war uns, dass die Freiberufler∙innen, die oft seit Jahren für die Einrichtungen arbeiten und Spezialkenntnisse und einzigartiges Wissen aufgebaut haben, nicht verloren gehen. Oft sind es Soloselbständige, die sich schwertun, Betriebskosten nachzuweisen oder Überbrückungskredite zurückzuzahlen. Mit der Generierung von Aufträgen ist beiden geholfen: den Freiberufler∙innen und den Museen und Sammlungen.
Die COVID-19-Pandemie führt zu großen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verwerfungen. Wie schaffen wir es, in Zeiten schwerer Krisen die Wichtigkeit des Kulturguterhalts nicht aus den Augen zu verlieren?
Keiner war auf diese Krise vorbereitet. Dass nicht alles rund läuft, ist verständlich. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass wir in einem rohstoffarmen Land leben und Kultur und Wissenschaften unsere größten Ressourcen sind. Der Erhalt der materiellen Grundlage unserer europäischen Kulturlandschaften ist lebensnotwendig und natürlich systemrelevant. Wir wollen alle nicht in einer geschmiert laufenden Fabrik leben, sondern in einer durch Kultur geprägten, lebenswerten Heimat. Der durch und innerhalb der Kultur mögliche Austausch, die Innovationen und Diskussionskultur kommen natürlich letztlich auch der Wirtschaft zugute – unser Gründer Ernst von Siemens hat das als Unternehmer und Mäzen so gesehen und ich freue mich über jede·n Wirtschaftsvertreter·in seines Formats. Die durch solche Mäzene ermöglichte Kofinanzierung von 200.000 Euro für unsere aktuell mit 2,5 Mio. Euro dotierte Corona-Förderlinie sind für mich eine schöne Bestätigung des Programms.
Wie agil muss eine kulturfördernde Stiftung sein, um kurzfristig auf derartige Krisen reagieren zu können?
"Machen statt twittern!" war unser Motto in den ersten Wochen der Coronapandemie. Wir haben die große Beweglichkeit und das Vertrauen unserer Gremien genutzt, mit den Betroffenen im Kulturbereich gesprochen und Bürokratie weitestmöglich vermieden. Wichtig ist, dass ein Förderer nicht nur Geld zur Verfügung stellt, sondern gerade in Krisenzeiten auch zusätzliche eigene Manpower, um vermehrt auf die Förderempfänger∙innen zuzugehen, um ihnen Arbeitsbelastung abzunehmen und Anträge schnell zum Erfolg zu führen – oder genauso schnell, am besten schon in der Vorbereitungsphase, abzulehnen. Nur Pressemitteilungen über neu eingestellte Mittel helfen nicht, denn die Förderempfänger∙innen kämpfen unmittelbar mit der Krise und sind von deren Folgen weit mehr betroffen als wir Förder·innen.
Kulturgut soll Jahrhunderte, wenn nicht gar Jahrtausende überdauern. Was sind die größten Herausforderungen für den Originalerhalt im 21. Jahrhundert?
Die Zersplitterung und gegenseitige Kannibalisierung der Kultureinrichtungen beim Kampf um die begrenzten Mittel sehe ich mit Sorge. Nicht jedes Thema braucht noch ein neues Haus oder eine neue Institution. Vielmehr müssen die bestehenden Einrichtungen ausreichend Mittel für Personal und Betriebskosten erhalten, um immer auch neue aktuelle Themen anzugehen und ihre Bestände so zu bewahren, wie es nötig ist. Die vielen Restaurierungsprojekte, die sich mit in Museumsbesitz über Jahrzehnte vernachlässigten Beständen befassen müssen, sind der traurige Beleg dafür, dass viele Träger dem Bestandserhalt nicht die notwendige Aufmerksamkeit widmen.