Gabriele Tergit (1894–1982) war als Schriftstellerin und Journalistin zu Zeiten der Weimarer Republik vor allem für ihre Gerichtsreportagen berühmt. Dieses Genre hatte sie als erste Frau im deutschsprachigen Raum für sich erobert. Im Jahr 1933 musste Tergit sich vor NS-Verfolgung in Sicherheit bringen und floh zunächst über Tschechien nach Palästina und später weiter nach England. Im Jahr 2014, also mehr als 30 Jahre nach ihrem Tod, ist ein Teil ihres persönlichen Nachlasses auf einem Dachboden in Südengland wiederentdeckt worden. In einem KEK-Modellprojekt wurden die Dokumente 2015 restauriert. Dr. Elke-Vera Kotowski von der Moses Mendelssohn Stiftung in Berlin hat die Wiederentdeckung sowie das KEK-Modellprojekt begleitet und betreut Gabriele Tergits privaten Nachlass seitdem.

KEK: Wie ist es dazu gekommen, dass Gabriele Tergits Nachlass 2014 in England wiederentdeckt wurde?

Dr. Elke-Vera Kotowski: Es sind immer diese wundersamen Zufälle. 2014 organisierte ich eine Tagung aus Anlass der Gründung des Exil-PEN vor 80 Jahren, den Gabriele Tergit fast 25 Jahre als Generalsekretärin anführte. Ich hatte im Jahr zuvor den in Fürth geborenen und mit der Familie 1938 nach Argentinien emigrierten Schriftsteller Robert Schopflocher in Buenos Aires kennengelernt. Als Ehrenmitglied des Exil-PEN wollte ich ihn gern als Referenten für die Tagung gewinnen. Bei einem Gespräch darüber stellte sich heraus, dass er mit der langjährigen Generalsekretärin des Exil-PEN in Verwandtschaft stand. Seine Großmutter war die Schwester von Gabriele Tergits Vater Siegfried Hirschmann.

Portrait von Gabriele Tergit
Portrait der Schriftstellerin und Journalistin Gabriele Tergit. Foto © Moses Mendelssohn Stiftung Berlin

Robert Schopflocher setzte sich daraufhin mit seinem Cousin Tomas Hirschmann in Guatemala in Verbindung, dem Neffen von Gabriele Tergit. Sie hatten bisher keinen Kontakt, aber nunmehr fanden sie hinsichtlich der geplanten Tagung eine gute Gelegenheit zum Austausch über die gemeinsame Verwandte. Tomas Hirschmann, der Sohn des Bruders von Gabriele Tergit, setzte sich sogleich mit mir in Verbindung. Er berichtete mir, dass möglicherweise Tergits Schwiegertochter in Mittelengland noch Unterlagen der Schwiegermutter besitze, da sie nach deren Tod Tergits Wohnung in London aufgelöst hatte. Tomas Hirschmann nahm wiederum sogleich Kontakt mit Tergits Schwiegertochter auf und reiste eigens von Guatemala nach England, um Penny Chettle zu bitten, noch vorhandene Unterlagen zusammenzusuchen und an mich auszuhändigen.

Wie sich zeigte, fanden sich auf dem Dachboden ihres Hauses noch eine Reihe von persönlichen Dokumenten, die Gabriele Tergit zu Lebzeiten nicht an das Literaturarchiv in Marbach oder das Exilarchiv in Frankfurt gegeben hatte. Darunter befanden sich u. a. Familienbriefe, Fotos, Rezensionen über die eigenen Werke und verschiedenste Erinnerungsstücke wie Einladungs- und Visitenkarten oder Poesiealben aus ihrer Kindheit. Es handelt sich also um einen ganz persönlichen Bestand, den mir die Familie nach Übereinkunft zur Aufbereitung, wissenschaftlichen Aufarbeitung und Archivierung anvertraute.

KEK: Wie sind die Dokumente schließlich nach Deutschland gelangt und zum Gegenstand eines KEK-Modellprojekts geworden?

Vom damaligen Gespräch mit Robert Schopflocher und dem anschließenden E-Mail-Verkehr mit Tomas Hirschmann bis zum Erhalt eines etwa 50 x 40 x 50 cm großen Pakets aus England dauerte es nur wenige Wochen und so konnten wir einige Objekte aus dem Konvolut im November 2014 während der Tagung "Sprache ist Freiheit der Sprache. 80 Jahre Exil-PEN", die im Max Liebermann Haus neben dem Brandenburger Tor stattfand, ausstellen. Ich hatte parallel im Wintersemester 2014/15 ein Seminar an der Universität Potsdam angeboten, um mit Studierenden an dem Nachlass zu arbeiten. Allerdings stellte sich sehr schnell heraus, dass sich die Materialien, die Jahrzehnte auf dem Dachboden Kälte, Wärme, Feuchtigkeit und Staub ausgesetzt waren, als überaus fragil erwiesen und unmöglich im vorgefundenen Zustand gesichtet, geschweige denn hätten bearbeitet werden können. Meine damaligen Kolleginnen aus der Bibliothek des Moses Mendelssohn Zentrums in Potsdam, Karin Bürger und Ursula Wallmeier, schlugen daher vor, bei der KEK einen Antrag zu stellen. Die Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts (KEK) avisierte für das Jahr 2015 eine Förderung von Modellprojekten zum Schwerpunktthema "Vergessene Kostbarkeiten". Eine vergessene Kostbarkeit stellte das Tergit-Konvolut zweifellos dar und so wurde der Antrag eingereicht und für förderwürdig erachtet. 

KEK: Welche Schäden waren an den Materialien zu sehen und welche Erhaltungsmaßnahmen waren erforderlich, um sie zugänglich zu machen?

Wie gesagt, die Materialien waren über 30 Jahre lang Dachbodenbedingungen ausgesetzt – Staub und wechselnden klimatischen Bedingungen. Das Papier, sowohl vieler Briefe, mehr noch der Zeitungsseiten aus den 1920er und 1930er-Jahren, befand sich in einem überaus schlechten Zustand. Hinzu kam ein Schimmelpilzbefall, der es uns unmöglich machte, mit dem Konvolut zu arbeiten. Bei der ersten Durchsicht bekamen wir Hustenanfälle, nicht wenige Gesichter sowie Dekolleté- und Halsregionen verfärbten sich rot und es kam zu unangenehmen Hautreizungen. Kurzum, der gesamte Bestand musste einer Schimmelbehandlung unterzogen und fast alle Dokumente Blatt für Blatt entsäuert, gereinigt und stabilisiert werden.

Restaurierung
Restaurierungsarbeiten am Nachlass von Gabriele Tergit. Foto © Moses Mendelssohn Stiftung Berlin

KEK: Was genau ist in den Konvoluten enthalten? Sind Teile daraus zwischenzeitlich publiziert?

Meine These ist, dass dieser Bestand für Gabriele Tergit einen besonderen emotionalen Wert darstellte. Deshalb wollte sie diese Unterlagen nicht vorab einem Archiv übergeben. Ich denke, sie hing an jenen Briefen aus ihrer Jugend, es handelt sich um viele Briefe der Eltern an die Tochter, um Feldpostbriefe von Freunden, die im Ersten Weltkrieg von der Front aus berichteten, und eben Erinnerungsstücke, wie beispielsweise Theaterprogramme von besuchten Aufführungen oder Einladungen und Menükarten von Familienfesten. Die Briefe umfassen einen Zeitraum von etwa 1900 bis in die 1940er Jahre, einige auch bis in die 1980er Jahre, sprich sie spiegeln ihr gesamtes Leben wider. Es findet sich auch die Urkunde des Bundesverdienstkreuzes in dem Bestand. Dies wurde ihr 1964 vom damaligen Bundespräsidenten Heinrich Lübcke verliehen. Ausgestellt ist die Urkunde auf ihr Pseudonym Gabriele Tergit und nicht auf ihrem amtlichen Namen Elise Reifenberg (geb. Hirschmann).

Literaturkalender aus dem Jahr 1933
Literaturkalender aus dem Jahr 1933. Foto © Moses Mendelssohn Stiftung Berlin

Publiziert als solches ist der Bestand noch nicht, er wird aber von einer Reihe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gesichtet und auch Teile daraus wie einzelne Briefseiten, Fotografien oder Zeitungsartikel sind veröffentlicht. Ich habe selbst eine kleine Biografie über Gabriele Tergit geschrieben und einige Dokumente daraus publiziert, so beispielsweise ihre Reisepässe, die eine hervorragende Quelle sind, um zu rekonstruieren, in welche Länder sie wann gereist ist.

KEK: Zum Abschluss vielleicht noch eine persönliche Frage: Gibt es ein Dokument, das Sie besonders berührt hat?

Mein Lieblingsobjekt ist ein Literaturkalender aus dem Jahr 1933. Es ist allerdings auch ein makaberes Dokument. Woche für Woche ist ein Porträt von einer zeitgenössischen Schriftstellerin oder einem Schriftsteller abgebildet. Die vierte Kalenderwoche ziert ein Bild von Gabriele Tergit. Es ist jene Woche vom 29. Januar bis 4. Februar 1933. An Montag, den 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt. Nur wenige Wochen später musste Gabriele Tergit aus Deutschland fliehen, da die Nationalsozialisten die Journalistin und Schriftstellerin zur Staatsfeindin erklärt hatten und nach ihrem Leben trachteten.

 

Abendveranstaltung "Original gelesen: Der Nachlass von Gabriele Tergit"

Donnerstag, 21. November 2024, 18:30 Uhr
Otto-Braun-Saal der Staatsbibliothek zu Berlin, Potsdamer Straße 33, 10785 Berlin

Im Rahmen der Abendveranstaltung „Original gelesen“ wird die Übersetzerin und Autorin Dr. Karolina Golimowska mit Dr. Elke-Vera Kotowski zur Überlieferungsgeschichte und Restaurierung des Nachlasses sprechen. Ausgewählte Texte werden von den Schauspieler·innen Julia Meier und Sven Brömsel vorgetragen. Die Veranstaltung findet in Kooperation mit der Moses Mendelssohn Stiftung statt.