"Es gibt da eine Anziehungskraft, die vom Material ausgeht"

Papier ist geduldig, aber nicht unverwüstlich – diese Erfahrung machte die Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch (HfS) nach einem Wasserschaden im Jahr 2021. Wie wertvolle Dokumente aus über 100 Jahren Theatergeschichte an der HfS gesichert werden und welche Bedeutung sie für die Identität der Institution haben, erläutern die vier Mitarbeiterinnen Eva Großmann (Archivarin), Dr. Anna Luise Kiss (Rektorin), Kirsten Hoferer (Leiterin der Bibliothek) und Johanna Stapelfeldt (BMBF-Projekt "Dramaturgien eines Archivs") im Gespräch.
Eva Großmann: Das ist zum einen typisches Material, wie man es auch in anderen Hochschularchiven findet, das heißt vor allem Verwaltungsakten. In den Studierendenunterlagen finden sich aber auch Dokumentationen künstlerischer Arbeiten von Regiestudierenden wie Konzeptionsmaterial, Arrangementskizzen und Probennotate zu Praktikums- und Diplominszenierungen. Da die Schauspielausbildung an der Ernst Busch schon immer eng an die Praxis gebunden war, die Studierenden also schon während ihres Studiums auf der Bühne standen, bewahrt das HfS-Archiv auch Material, das eher typisch ist für ein Archiv der Darstellenden Kunst wie Theaterplakate, Programmhefte, Kritiken, Aufführungsfotografien, Modellbücher, Videoaufzeichnungen. Spannend ist, dass darin die ersten Gehversuche später bekannter Schauspieler·innen dokumentiert sind. Das Material reicht von 1905, als Max Reinhardt die Schauspielschule am Deutschen Theater gegründet hat, über die NS-Zeit bis hin zur DDR, als die Schule nach Schöneweide zog und zunächst zur staatlichen Fachschule und später zur Hochschule wurde.
Anna Luise Kiss: Durch den Umzug in die Zinnowitzer Straße sind erstmals alle Bereiche der Ernst Busch unter einem Dach vereint. Wir haben also zum aller ersten Mal einen gemeinsamen Campus und damit auch ein gemeinsames Archiv. Dadurch rücken die Bereiche Schauspiel, Puppenspiel, Choreografie, Regie und Dramaturgie und "Spiel und Objekt" näher zusammen, was auch mit Herausforderungen verbunden ist. Dabei spielt das Archiv eine wichtige Rolle: Für mich ist es wie eine Art Wurzel, die uns hilft, am neuen Standort anzukommen, uns hier zu verorten, ohne zu vergessen, wo wir herkommen. Die Archivalien sind materielle Zeugnisse einer bewegten Schulgeschichte, die sich über zwei Weltkriege und verschiedene politische Systeme erstreckt und neben Lichtmomenten auch ihre Schattenseiten birgt. Als Hochschule bauen wir auf dieser komplexen Geschichte und langen Tradition auf. Das wurde uns schmerzhaft klar, als 2021 die Archivalien plötzlich durch einen Wasserschaden bedroht waren. Man sagt zwar, Papier sei geduldig, aber jetzt mussten wir schnell handeln, um unsere Wurzel nicht zu verlieren.
Kirsten Hoferer: Nach besagtem Starkregen im August 2021 und dem dadurch verursachten massiven Wasserschaden konnten wir die Archivalien erst einmal nur notdürftig sichern. Dann brauchten wir Unterstützung. Deshalb haben wir ein Modellprojekt bei der KEK beantragt und glücklicherweise auch bewilligt bekommen. So konnten wir schon im darauffolgenden Jahr die Restauratorin Kerstin Jahn gewinnen, um ein Bestandserhaltungskonzept für das Archiv zu erstellen. Sie hat dann erstmals eine umfassende Übersicht des Bestands und der Schadensbilder sowie der damaligen Aufbewahrung erstellt. Gleichzeitig hat sie Empfehlungen gegeben, wie wir die Lagerungssituation verbessern können, um den Bestand zu erhalten. Die Projektmittel haben uns außerdem ermöglicht, zahlreiche Theaterplakate, die durch den Wasserschaden verblockt waren, fachgerecht restaurieren zu lassen.
Eva Großmann: Seit 2024 läuft außerdem ein zweijähriges KEK-Projekt, das aus Mitteln des BKM-Sonderprogramms zur Erhaltung des schriftlichen Kulturguts und durch das Land Berlin gefördert wird. In dem Projekt geht es darum, die eingangs erwähnten Akten aus 100 Jahren Schulgeschichte vor dem Zerfall zu retten. Gerade die älteren Bestände, zu denen das Archiv viele Anfragen erhält, waren durch sauren Verfall, korrodierende Metallteile, Schädlinge, Staub und zum Teil auch Schimmel stark bedroht. Jetzt werden – und wurden zum Teil schon – die Unterlagen durch einen Dienstleister gereinigt, massenentsäuert und archivgerecht umverpackt. Damit wird nicht nur der Erhalt dieser einzigartigen Materialien gesichert, sie werden überhaupt erst zugänglich. Denn bisher war ein Großteil der Unterlagen wegen ihres fragilen und stark verschmutzten Zustands für die Nutzung gesperrt.
Johanna Stapelfeldt: Das von Kirsten Hoferer erwähnte Bestandserhaltungskonzept war Ausgangspunkt für unsere Arbeit, als wir im Juli 2023 mit dem Projekt "Dramaturgien eines Archivs" gestartet sind. Unser erstes Projektjahr war ganz der Archivertüchtigung gewidmet: Und so haben wir Kerstin Jahns Empfehlungen umgesetzt und ein Klima- und Schädlingsmonitoring eingeführt, geeignete Räume gesichtet, gereinigte von ungereinigten Archivalien separiert, Archivmöbel und Verpackungsmaterial beschafft. Wir haben uns sogar schulen lassen, wie wir einfache Restaurierungsarbeiten wie Trockenreinigung und Entmetallisierung selbst durchführen können. Um das Thema Bestandserhaltung einem breiten Publikum nahezubringen, haben wir letztes Jahr zum Tag der offenen Ernst Busch unter dem Titel "Risse schließen. Fehlstellen ergänzen" die 2022 restaurierten Theaterplakate ausgestellt. Allerdings wurde auch schnell klar, dass wir im Rahmen des Projektbudgets Bestandserhaltungsmaßnahmen nicht in dem nötigen Umfang durchführen können. Deshalb haben wir Mittel aus dem BKM-Sonderprogramm eingeworben. Mit dem Material wird nun auch im Rahmen des BMBF-Projekts weitergearbeitet, sei es in der Forschung, Lehre oder auch in Ausstellungen.
Johanna Stapelfeldt: Das ist spannend: In der Bildenden Kunst würde das niemand fragen. Da ist klar: Die Originalität macht den Wert eines Werks aus. Beim Theater ist das Original ein Ereignis, das man nicht aufheben kann. Um aber Theatergeschichte schreiben zu können – oder auch nur eine Geschichte der Schauspielausbildung –, brauchen wir Zeugnisse, auf die wir uns beziehen können. Umso wichtiger ist es, dass diese flüchtige Kunst in Form von Archivalien dokumentiert wurde und wird. Aleida Assmann hat einmal in Bezug auf die Differenz zwischen Internet und Archiv geschrieben, das Original bürgt durch seine Materialität dafür, dass die Vergangenheit wirklich vergangen ist. Den Effekt habe ich letztes Semester an Studierenden beobachten dürfen, die zum allerersten Mal im Archiv recherchiert haben. Es gibt da eine Faszination und Anziehungskraft, die vom Material ausgeht und nicht nur intellektuell, sondern auch körperlich erfahrbar wird, wenn man das Papier berührt, riecht.
Eva Großmann: Die Schule hat ja eine, um es einmal neutral zu sagen, bewegte Vergangenheit, die in Teilen bis heute nicht unabhängig aufgearbeitet wurde – unter anderem auch, weil die dafür notwendigen Unterlagen bisher nicht zugänglich waren. Auch für eine solche wissenschaftliche Aufarbeitung ist es von zentraler Bedeutung, dass ein Dokument im Original vorliegt. Denn nur daran lässt sich seine "Authentizität" und Echtheit prüfen, also ob es in seiner ursprünglichen Form und unverändert vorliegt. Außerdem ist die Aufbewahrung im Original nach wie vor die beste langfristige Sicherung, da die digitale Langzeitarchivierung immer noch vor ungelösten Herausforderungen steht. Papier ist in dieser Hinsicht doch geduldig und hält sich am Ende besser als eine Festplatte.
Teaserfoto © Jörg F. Müller