Als Leiter des Brandenburgischen Landeshauptarchivs und ehemaliger Vorsitzender des Fachbeirats der KEK ist Prof. Dr. Mario Glauert bestens vertraut mit Fragen der Bestandserhaltung. Wir haben ihn gefragt, warum gerade Prävention so wichtig ist und wie wir schriftliches Kulturgut ins 22. Jahrhundert retten können. 

KEK: Der Titel einer Ihrer bekanntesten Veröffentlichungen zum Thema Originalerhalt lautet "Bestandserhaltung beginnt im Kopf, nicht im Geldbeutel". Welches Wissen braucht es, um Schriftgut dauerhaft zu sichern?

Mario Glauert: Wissen braucht es sicher auch. Das Wichtigste aber, und darum geht es in dem Titel, ist die Schaffung eines Problembewusstseins. Das mag banal klingen, ist in der Praxis aber die größte Hürde. Wenn es gelingt, in der Öffentlichkeit, in Politik und Verwaltung, bei Kolleg·innen und Nutzenden unserer Bestände Einsicht und Verantwortung für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts zu wecken, ist der schwierigste Schritt getan. Auch in meinen Seminaren geht nicht so sehr um die Vermittlung von Fachwissen. Für die Vielfalt der Methoden und Materialien ist das gar nicht abschließend zu leisten. Mir ist es immer wichtig, den Blick zu sensibilisieren für Schäden und deren Ursachen, für die Gefährdungen im Arbeitsalltag von Archiven und Bibliotheken – also die Schäden von morgen. Natürlich auch für die hohen Kosten, die auf der anderen Seite für die Behebung von Schäden und den Stopp von Schadensprozessen erforderlich sind. Bestandserhaltung beginnt aber nicht bei diesen Kosten.

Seit Gründung der KEK sind Sie Mitglied im Fachbeirat. Wie sind seitdem in der bundesweiten Koordinierung des Originalerhalts Präventivmaßnahmen unterstützt worden?

Natürlich hat die KEK von Anfang an auch präventive Maßnahmen zur Bestandserhaltung gefördert, etwa die Verpackung und Notfallvorsorge. Vor allem aber haben wir von Anfang auch auf die Verantwortung der Einrichtungen selbst und ihrer Unterhaltsträger verwiesen, z. B. bei der gesicherten Unterbringung und der Gewährleistung fachgerechter Lagerungsbedingungen. Bauliche Maßnahmen oder technische Installationen werden nicht gefördert. Seit vielen Jahren ist die Zusage von Mitteln an die Nachhaltigkeit der geförderten Maßnahmen gebunden: Archive und Bibliotheken, die keine angemessenen Magazinbedingungen nachweisen, können keine Förderung bekommen. Das hat in den letzten Jahren zu erheblichen Verbesserungen in der Unterbringung zahlreicher Einrichtungen geführt. Viele Träger haben erkannt, dass dies die Grundlage der Prävention ist und die Voraussetzung für alle weiteren Maßnahmen. Sonst wäre jede Schimmelbeseitigung und Restaurierung sinnlos. Keine noch so gute Verpackung vermag ein ungenügendes Magazinklima auszugleichen.

Vermessen von Separationskarte
Mit Unterstützung der KEK ermittelte das Landeshauptarchiv 2019 die Schäden an Separationskarten. In einem weiteren KEK-Projekt werden ausgewählte Karten 2021/22 restauriert und in diesem Zuge auch für die weitere Nutzung digitalisiert. © Brandenburgisches Landeshauptarchiv

Welche Hilfestellungen gibt das Brandenburgische Landeshauptarchiv kleineren Einrichtungen, z.B. Stadt- und Kreisarchiven, denen es an Fachwissen oder -kräften fehlt?

In Brandenburg sind wir in der komfortablen Lage, dass sich seit vielen Jahren gleich zwei großartige Einrichtungen der Beratung und Schulung der Kommunalarchive, aber auch der anderen Archive im Land annehmen: Die Landesfachstelle für Archive und öffentlichen Bibliotheken an der FH Potsdam und das Kompetenzzentrum Bestandserhaltung für Archive und Bibliotheken in Berlin und Brandenburg (KBE) an der Zentral- und Landesbibliothek Berlin (ZLB). Beide bieten kostenlose Fortbildungsprogramme, Einzelberatungen und gezielte Fachinformationen. Der jährliche Tag der Bestandserhaltung findet dieses Jahr zum zehnten Mal statt, wieder mit einem umfangreichen Programm über zwei Tage. Das trägt zum Austausch und nicht zuletzt zur Vernetzung bei. Auch das Landeshauptarchiv selbst berät und unterstützt die Kolleg·innen immer wieder mit Schulungen, Workshops und im Notfall tatkräftiger Hilfe vor Ort. Aber natürlich wissen wir auch, dass viele Archive im Land nicht über die notwendigen personellen und finanziellen Ressourcen verfügen, um dauerhaft größere Bestandserhaltungsmaßnahmen durchzuführen. Brandenburg ist fast das letzte Bundesland, dass kein offizielles Bestandserhaltungsprogramm aufgelegt hat. Doch gerade für die Kofinanzierung der beiden KEK-Programme, für die Modellprojekte und das BKM-Sonderprogramm, hat das zuständige Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur in der Vergangenheit immer Unterstützung bereitgehalten.

Auch allgemeingültige Standards wie die DIN- oder ISO-Normen sind eine wichtige Grundlage für den Originalerhalt. Was hat sich hier in den letzten zehn Jahren getan?

Wandschild im Archiv
Ein Aspekt des Originalerhalts sind die Magazinbedingungen. So muss z. B. kontaminiertes Schriftgut separat gelagert werden. © Brandenburgisches Landeshauptarchiv

Ich denke, wir alle können beobachten, dass Bewusstsein und Fachwissen zur Bestandserhaltung in der Praxis der Archive und Bibliotheken in Deutschland spürbar zugenommen haben. Dies ist auch Ausdruck der gewachsenen Wahrnehmung des Themas in den Fachcommunities und bei den Trägern. Infrastrukturen, Verbünde und Programme zur Beratung, Qualifizierung und Förderung wurden nahezu flächendeckend etabliert. Das zeigt erfreuliche Wirkung für die Bewahrung unseres schriftlichen Kulturguts und hat auch die Nachfrage nach Fachempfehlungen und Standards beflügelt. Das Normenhandbuch Bestandserhaltung in Archiven und Bibliotheken ist dieses Jahr in der 7. Auflage erschienen. Und seine über 800 Seiten reichen gerade aus, die Normen zum Magazinbau und -klima zusammenzustellen. Ob bei der Entsäuerung von Papier, der alterungsbeständigen Verpackung von Objekten oder beim Schädlingsmonitoring: Normen zur Bestandserhaltung sind im Alltag der deutschen Archive und Bibliotheken angekommen. Und die KEK hat mit dazu beigetragen, als sie die 6. Auflage des Handbuchs kostenlos an über 1.000 Einrichtungen verteilt hat. Denn Normen helfen den Kolleg·innen vor Ort, ihre Träger zu überzeugen: Sie geben fachlichen Anforderungen eine hohe Legitimation und vermitteln zugleich kompakte und zuverlässige Informationen. Sie gewährleisten etwa bei Ausschreibungen oder Verträgen eine hohe Verbindlichkeit und geben den Anwender·innen  die rechtliche Sicherheit, den jeweils anerkannten Stand der Technik und Wissenschaft abzubilden. Denn sie werden stets gemeinsam mit den Anbietern und Dienstleistern erarbeitet. Als Vorsitzender des zuständigen DIN Normenausschusses Information und Dokumentation sehe ich aber auch, dass die wachsende Zahl der nationalen und internationalen Normen uns zunehmend herausfordert, die notwendige Harmonisierung und vor allem die Anschlussfähigkeit an die Praxis im Blick zu behalten.

Kulturgut soll Jahrhunderte, wenn nicht gar Jahrtausende überdauern. Was sind die größten Herausforderungen für den Originalerhalt im 21. Jahrhundert?

Oh, das ist eine schwierige Frage! Natürlich denkt man dabei an den fortschreitenden Papierzerfall, der schleichend, aber stetig zum Verlust eines Großteils unserer schriftlichen Überlieferung ab der Mitte des 19. Jahrhunderts führen wird. Aber die größte Herausforderung stellt sicher die Entscheidung dar, welche Originale wir denn ins 22. Jahrhundert retten möchten – von "Jahrtausenden" möchte ich da noch gar nicht sprechen! So bitter es klingt: Wir werden nicht alle Bücher und Archivalien im Original erhalten können. Die Frage ist dann, nach welchen Kriterien wir Bestände priorisieren möchten. Die Diskussionen dazu haben in den Fachcommunities gerade erst begonnen. Außerdem werden wir Digitalisierung und Originalerhalt stets zusammendenken müssen. Und nicht immer wird am Ende ein "sowohl als auch" herauskommen können. In der Praxis der Archive werden vorhandene Haushaltsmittel zur Bestandserhaltung schon jetzt zunehmend zur Konservierung und Restaurierung von Beständen im Vorfeld ihrer Digitalisierung verwendet, da aktuelle Förderprogramme wie der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) oder des Bundes nur das Scannen, nicht aber die konservatorische Vorbereitung der Unterlagen finanzieren. Wir werden uns entscheiden müssen und viele Bestände auch nur noch digital sichern können. Sie werden sich in den Repositorien und Langzeitarchiven einreihen neben digitale Publikationen, elektronische Akten und Forschungsdaten, die wir ja ebenfalls über "Jahrtausende" erhalten möchten. Welches schriftliche Kulturgut wir als Gesellschaft weiterhin im Original auf Papier oder Pergament bewahren wollen – auf diese Diskussion bin ich gespannt.