In einer unscheinbaren Halle am Stadtrand von Bad Arolsen lagert der weltweit größte Bestand an Unterlagen über NS-Verfolgte. Die Arolsen Archives versammeln stumme Zeugen des verbrecherischen Handelns einer
Mordmaschinerie. Die NS-Bürokratie dokumentierte ihr grausames Vorgehen penibel. Auf den in Bad Arolsen aufbewahrten Originalkarteikarten des Konzentrationslagers Buchenwald findet man beispielsweise Angaben zu Namen, Berufen und mitgeführten Wertgegenständen von Häftlingen.

Aufbewahrt werden die Dokumente heute in meterlangen Aktenschränken in den Arolsen Archives. Die Karten sind oft der Einstieg in ganz persönliche, traumatische Geschichten, die die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Archivs auf Anfrage von Betroffenen nachvollziehen. "In seltenen Fällen schaffen wir es auch heute noch, auseinandergerissene Familien zusammenzuführen. Für viele Nachfahren geht es heute aber darum, die eigene Familiengeschichte zu rekonstruieren", erzählt Małgorzata Przybyła, Mitarbeiterin im Bereich Tracing der Arolsen Archives. Die historischen Dokumente in Bad Arolsen sind seit 2013 UNESCO-Weltdokumentenerbe. Nicht zuletzt deswegen verstärkt das Archiv seine Anstrengungen, die bedeutsamen Bestände nach modernsten Methoden zu konservieren. Eile ist geboten, denn schon in naher Zukunft wären die Dokumente unbenutzbar. Denn die Säure im Papier zerfrisst die bedeutenden Originalarchivalien.

Der unsichtbare Feind des papierenen Gedächtnisses

Irgendwann fühlen sich die Dokumente an wie Esspapier, werden braun und brüchig. Nicht nur in den Arolsen Archives, sondern bundesweit sind Archivbestände massenweise vom Zerfall bedroht. Im Endstadium des Säurefraßes sind sie nicht mehr benutzbar. Besonders betroffen ist Papier, das seit der Industrialisierung in Massenverfahren hergestellt wurde. Verantwortlich für den zerstörerischen Prozess ist nicht etwa ein äußerer Umstand, sondern die Beschaffenheit des Papiers selbst. Damit es die Tinte nicht aufsaugte wie Löschpapier, beschichtete man die Seiten ab ca. 1850 standardmäßig mit Leim. Neben der in ihm enthaltenden Säure wirkt ebenfalls der Stoff Lignin im Holzschliff, mit dem man die Papiermasse aus Kostengründen streckte, zerstörerisch. Die Säure zerschneidet die langen, stabilisierenden Zellulosefasern des Papiers in kleine Stücke und macht es brüchig. So löst sich das Papier langsam von innen auf. Um den unsichtbaren Feind des papierenen Gedächtnisses der letzten 170 Jahre auszubremsen, müssen die Dokumente massenentsäuert werden.

Archivmagazin
Im Magazin der Arolsen Archives lagert unter anderem die Zentrale Namenskartei. © Arolsen Archives, Johanna Groß

Der Bedarf an Entsäuerung ist riesig. Im Jahr 2015 veröffentlichte die Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts (KEK) die Bundesweiten Handlungsempfehlungen. Darin warnte sie davor, dass etwa die Hälfte der Bestände in öffentlichen Bibliotheken langfristig vom Zerfall durch Säurefraß betroffen sind. Auch Stephanie Preuss von der Deutschen Nationalbibliothek fordert: "Wir haben eine riesige Zahl an Beständen, die von einer Schädigung durch Säure bedroht sind. Wir brauchen neben Finanzmitteln ein gemeinsames
Konzept von Bund, Ländern und Kommunen, eine gemeinsame Strategie, wie wir das Problem lösen können." Die Zeit für die Behandlung der Bestände drängt, denn ist ein Papier einmal zu weit zersetzt, würde die Entsäuerung nur noch mehr Schaden anrichten. "Grundsätzlich gilt: Je früher wir entsäuern, desto nachhaltiger können wir die bedrohten Bestände für zukünftige Generationen sichern. Wir müssen die Bestände im Blick haben, die noch wenig bzw. keine Abbauerscheinungen zeigen, und danach die Massenentsäuerung ausrichten", so Preuss.

Nicht alle Papiere zerfallen gleich schnell

Vier verschiedene Entsäuerungsverfahren stehen den Archiven und Bibliotheken zur Verfügung. Die richtige Wahl ist nach Beschaffenheit von Papier, Bindungen und Beschriftungen zu treffen. Manche dieser Verfahren kommen ohne, andere nur mit wässrigen Lösungen aus, in die das Papier getaucht werden muss. Die Verfahren bringen alkalische Stoffe in das Papier ein, um die Säure zu neutralisieren. Bei der Ermittlung von Schäden ist eine Priorisierung von besonders gefährdeten Beständen notwendig, denn nicht jedes Papier zerfällt gleich schnell. Zeitungen zersetzen sich oft viel schneller als Bücher, weil Zeitungspapier häufig besonders dünn, von mangelnder Qualität und säurehaltig ist.

Neben der Papiersorte ist aber auch der Herstellungszeitraum für die Priorisierung von Schäden wichtig. Laut der Bundesweiten Handlungsempfehlungen der KEK haben Papiere aus den Jahren 1915 bis 1965 einen besonderen Handlungsbedarf, weil sie einen hohen Anteil an Holzschliff enthalten. So gilt auch für die Arolsen Archives: Es muss schnell gehandelt werden. Die Bestandserhaltung hat nicht nur für die Nachkommen von in der NS-Zeit verfolgten Personen eine ganz besondere Signifikanz. Auch erinnerungspolitisch ist die Erhaltung der Dokumente in Bad Arolsen von großer Bedeutung.