Der Titel auf dem Rücken von Band XXIX.E.4. ist verblichen. Auch wenn man den dicken, ledergebundenen und an der Ecke ausgebesserten Deckel aufschlägt, findet sich lediglich ein Inhaltsverzeichnis. In lateinischen Buchstaben kündigt es unter anderem eine Geschichte der heiligen Elisabeth, Gespräche über das Buch Hiob, eine Abhandlung über den Antichrist und eine weitere über das Sakrament der Eucharistie an. XXIX.E.4. ist ein Sammelband, eine Handschriftensammlung. Seine Seiten sind eng beschrieben und zum Teil mit kunstvollen Initialen verziert. "Man muss sich das so vorstellen, dass der erste Besitzer viele kleine Schriften gesammelt hat und sie dann zusammenbinden ließ", erklärt Bruno Blüggel, Fachreferent der Universitätsbibliothek Greifswald. "Das Inhaltsverzeichnis wurde erst im 19. Jahrhundert ergänzt." Ob dieser erste Besitzer jener Franziskanermönch war, der den Band 1430 vom Studium in Leipzig mit nach Greifswald brachte, ist nicht bekannt.
Ein Stempel weist XXIX.E.4. als Eigentum der Bibliothek des Geistlichen Ministeriums Gryphiswaldensis aus. Ein Geistliches Ministerium war bis Anfang des 20. Jahrhunderts eine Vertretung der evangelischen Pfarrerschaft und existierte in vielen deutschen Städten, auch in Gryphiswalde, dem heutigen Greifswald. Die 1602 gegründete Bibliothek, in der sich rund 100 mittelalterliche Handschriften und 300 Inkunabeln finden, besteht bis heute und gilt als eine der wichtigsten in Norddeutschland. Sie befindet sich nach diversen Zwischenstationen wieder im Greifswalder Dom und gehört der Domgemeinde St. Nikolai. Bruno Blüggel berät die Gemeinde bei ihren Bemühungen, die Bibliothek zu erhalten, und koordiniert ein KEK-Projekt zur Sicherung des Bestands.
Sammlungen werden über Jahrhunderte erhalten
Die Handschriftensammlung XXIX.E.4. ist ein Beispiel für die zahlreichen in Kirchenbesitz erhaltenen Bände, die über Jahrhunderte von Hand zu Hand gingen und sich heute in größeren, kleineren oder ganz kleinen Diözesan-, Pfarr-, Kirchen-, Gemeinde- oder Klosterbibliotheken befinden. Oft bestehen diese Sammlungen noch genau so, wie sie zusammengetragen wurden. Generationen von Nutzer·innen haben Notizen in die Bücher geschrieben oder Hände mit einem langen dünnen Zeigefinger neben die Texte gezeichnet, um wichtige Stellen zu markieren. Sie haben Fingerspuren hinterlassen und Farbklekse. Buchbinder haben die Bände repariert. So klebt im Einband von Band XXIX.E.4. ein altes zweispaltig beschriebenes Pergament. Der Inhalt dieser Schrift interessierte wohl nicht mehr, aber dem Buchbinder leistete das stabile und wertvolle Material gute Dienste. Anhand all dieser Spuren können Forscher·innen heute rekonstruieren, auf welchen Wegen Bücher verbreitet wurden und mit wem die Gelehrten, Pfarrer und gebildeten Bürger·innen im Austausch standen. "Es sind nicht nur die Einzelstücke, es sind diese Spuren, die den Bestand so interessant machen", sagt Blüggel.
Allerdings sind längst nicht alle Kirchenbestände in den einschlägigen Katalogen erfasst oder kommen in den Genuss fachmännischer Betreuung und Sicherung. Selbst die Anzahl der Bibliotheken lässt sich nur schätzen: Von "deutlich über 400" geht die Studie Erhaltung des schriftlichen Kulturguts in deutschen kirchlichen Bibliotheken und Archiven aus, die im Auftrag der Gemeinsamen Altbestandskommission der Arbeitsgemeinschaft Katholisch-Theologischer Bibliotheken (AKThB) und des Verbands kirchenwissenschaftlicher Bibliotheken (VkwB) erstellt wurde. Die Pfarrarchive sind dabei noch gar nicht mitgezählt. Insgesamt werden die Bestände in den Bibliotheken in kirchlicher Trägerschaft auf mindestens 19 Millionen Bücher geschätzt.
"Unsere Studie sollte auch die Handlungsempfehlungen der KEK zur Erhaltung des schriftlichen Kulturguts ergänzen, in denen die kirchlichen Einrichtungen bislang nicht berücksichtigt waren", berichtet Dr. Alessandra Sorbello Staub, Sprecherin der Gemeinsamen Altbestandskommission und Direktorin der Bibliothek des Bischöflichen Priesterseminars Fulda. "Als kirchliche Träger können wir an den Förderlinien der KEK teilnehmen, aber es gab keine belastbaren Daten, die die Bedarfe bei den kirchlichen Einrichtungen abbilden." So entstand die Idee einer Bestandsaufnahme. Schnell zeigte sich jedoch, dass dies nicht nebenbei zu leisten war. Die KEK übernahm die Förderung im Rahmen eines Modellprojekts. "Wir sind dann mit unserer Umfrage genau in die Corona-Zeit geraten, es war nicht immer einfach, Ansprechpersonen zu finden. Aber wir haben jetzt einen ersten Überblick." Und der zeigt: Die Bestände sind zahlreich und die meisten Bibliotheken wünschen sich fachliche und finanzielle Unterstützung bei der Bestandserhaltung.
Jede Gemeinde hat ihre eigenen Herausforderungen
Dabei ist die Situation der Bibliotheken ganz unterschiedlich. Große Diözesanbibliotheken, wie die in Fulda, verfügen über klimatisierte Magazine und Fachpersonal. Kleine Kirchenbibliotheken stehen oft in Pfarrhäusern, manche Bestände lagern gar in Kellern oder Kirchtürmen. "Und anders als bei den staatlichen Bibliotheken ist der Erhalt von Buchbeständen bei den Kirchen nur eine Aufgabe unter vielen. In einer Gemeinde geht es vor allem um Seelsorge, um Gottesdienste, vielleicht noch um den Kindergarten. Da läuft eine Bibliothek so mit", berichtet Sorbello Staub. Es gibt den Pfarrer oder die Pfarrerin und vielleicht ehrenamtliche Helfer·innen. Und wer ein Buch einsehen möchte, holt sich den Schlüssel.
Die Bibliothek des Geistlichen Ministeriums in Greifswald ist vergleichsweise gut aufgestellt. 2011 wurden die historischen Räumlichkeiten restauriert, seither befinden sich die Bücher wieder im nördlichen Seitenschiff des Doms St. Nikolai. Eine der Kapellen dort ist mit einer Wand aus hellem Holz versperrt, darin eine Tür mit einer Überwachungskamera. Nur ein dezentes Plakat weist darauf hin, dass sich hinter dieser Wand der Aufgang zur Bibliothek befindet. Dr. Gisela Ros schließt auf, es geht eine moderne Treppe hinauf, durch einen kleinen Gang, noch zwei alte Steinstufen und schon steht man vor dem ersten der Regale, die den kleinen, aber hohen Raum ausfüllen. Auf den Regalböden drängen sich kleine und große, dicke und dünne Bände, die meisten in hellem Ziegenlederbeige, manche auch in Rot, Grün oder Dunkelbraun. Die ältesten Werke der Sammlung stammen aus den Bibliotheken franziskanischer und dominikanischer Klöster, die in Greifswald nach der Reformation aufgelöst wurden. An einem Band hängen noch Teile der Kette, mit der er einmal am Pult eines Skriptoriums befestigt war und die verhindern sollte, dass allzu bibliophile Leser·innen den Band mitnahmen. Schenkungen und Vermächtnisse erweiterten die Bibliothek.
"Zu DDR-Zeiten hat man die Existenz der Sammlung nicht an die große Glocke gehängt, man misstraute dem Staat und hatte Angst, die Bestände könnten für Devisen verkauft werden", so Blüggel. "Und die Birgitta, ein Werk der Heiligen Birgitta von Schweden, fand man bei den jüngsten Renovierungen im Bauschutt dort unter der Treppe", ergänzt Ros. Es hat nun einen Ehrenplatz in einer Vitrine.
Ehrenamt ist wichtig für den Erhalt der Bibliotheken
Vor den Regalen ist noch Platz für den Luftentfeuchter. Dahinter gibt es eine Nische mit einem Regal für die "schwere Literatur": besonders große Bände, die in ihren Fächern liegen. "Wenn die jemand einsehen möchte, ist das eine Herausforderung", berichtet Ros. Die pensionierte Sprachwissenschaftlerin engagiert sich ehrenamtlich für die Bibliothek, gemeinsam mit Klaus Wiggers, einem pensionierten Buchdruckermeister. Wie wichtig ehrenamtliches Engagement für den Erhalt der vielen kleinen Bibliotheken ist, betont auch die Studie der Altbestandskommission. "So eine Begeisterung und so ein Engagement wie bei den Ehrenamtler·innen, das muss man erstmal finden", sagt Blüggel beeindruckt. Ros und Wiggers suchen die Bände heraus, die Forscher·innen einsehen möchten, führen Besuchergruppen herum und haben die Bibliothek auch im Winter im Blick, wenn es für Führungen zu kalt ist. "Wir haben jetzt zwar moderne Technik, aber man muss trotzdem regelmäßig nachsehen, ob alles in Ordnung ist oder ob sich etwa Holzwürmchen oder Papierfische zeigen", konstatiert Ros.
Vielen der Bände sieht man an, dass mit ihnen gearbeitet wurde: Buchrücken sind angerissen, Einbände sind lose, Schließen schließen nicht mehr. Erst auf den zweiten Blick fällt auf, dass manche Buchrücken im Regal gar keine Buchrücken sind, sondern Bilder, die auf Kartons kleben. In diesen befinden sich die Bände, die bereits mit Mitteln der KEK gesichert wurden. Sie wurden gereinigt, von Schimmel befreit und wenn nötig minimalinvasiv restauriert: Manchen Buchrücken zieren neue Lederbesätze, Einbände wurden neu befestigt, löchrige Seiten mit Seidenpapier hinterlegt. "Das geschieht in enger Abstimmung mit den Restaurator·innen. Wir greifen immer nur so viel ein, dass man die Bände wieder verwenden kann und Schäden nicht weiter fortschreiten", so Blüggel. Die Archivkartons dienen nicht nur dem Schutz der Bände selbst: "Gerade die Bücher mit Schließen und dicken Beschlägen beschädigen auch leicht ihre Nachbarn im Regal", erklärt Wiggers. Auch Band XXIX.E.4. steht, in Papier eingeschlagen, in einem solchen Karton.
Wie kann Kooperation Fachwissen fördern?
Ähnliches berichtet Dr. Almuth Märker, Beauftragte für Bestandserhaltung der Universitätsbibliothek Leipzig. Sie koordiniert ein Projekt im BKM-Sonderprogramm zur Sicherung der Kirchenbibliothek Annaberg im Erzgebirge. Auch diese um 1560 gegründete Bibliothek hat mittelalterliche Handschriften und Inkunabeln aus Beständen aufgelöster Orden übernommen. Heute umfasst die Sammlung zusammen mit ihren Drucken aus der Frühen Neuzeit etwa 3.500 Titel. Gewöhnlich befinden sie sich im geräumigen "Haus der Kirche", einem kirchlichen Ort der Begegnung in Annaberg-Buchholz. Derzeit stehen sie in der Universitätsbibliothek Leipzig, ein Teil der Bände wurde zur Restaurierung in eine Fachwerkstatt gebracht.
Wie viele andere hat auch die St. Annen-Gemeinde keine Fachleute für Bucherhaltung. "Wie soll so eine Gemeinde an die nötigen Kenntnisse kommen?", fragt Märker und gibt direkt die Antwort: Kooperation macht’s möglich. "Wir haben unser Know-how zur Verfügung gestellt und gemeinsam mit der Gemeinde einen Antrag bei der KEK gestellt. Außerdem gibt es ein Erschließungsprojekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und auch die Landesstelle für Bestandserhaltung, die einschlägige Projekte in Sachsen koordiniert, ist an der Finanzierung beteiligt." So wurden zuerst elf Bände in der KEK-Modellprojektförderung gesichert. Bei einer Begutachtung wurden dann noch einmal 69 Bücher mit besonders starken Schäden identifiziert, die bis 2025 gereinigt, restauriert und schutzverpackt werden sollen. "Diese Bibliothek umfasst einen hohen Anteil an Kleinschriften, die unikal überliefert sind: Drucke aus der Frühen Neuzeit mit Texten zu Gottesdiensten, mit Gebeten und Leichenpredigten, in denen die Lebensgeschichten der Verstorbenen festgehalten sind. Das sind ganz wertvolle sozialgeschichtliche Quellen", berichtet Märker.
Bibliotheken sind identitätsstiftend
Auch wenn die Bedingungen für den Bestandserhalt in kleinen Gemeinden nicht immer optimal sind, kommt es für die meisten nicht infrage, ihre Bibliothek auszulagern: "Für eine Gemeinde ist es identitätsstiftend und stärkend, solch eine Bibliothek vor Ort zu haben", hat Märker festgestellt. "Als wir eine Ausstellung hier in Leipzig gemacht haben, sind ganzvollviele Menschen aus Annaberg gekommen, um 'ihre' Bücher zu sehen. Dass sich Institutionen wie die Universitätsbibliothek, die DFG und die KEK für die Bestände engagieren, macht den Gemeinden und den Städten einmal mehr deutlich, was für einen Schatz sie besitzen." Ihr Lieblingsbuch in der Sammlung ist ein schmaler Band mit Gebeten und Liedern von 1722: die "Himmels-schöne Königliche Braut-Kammer" des Pfarrers Christian Zeis. Es ist kein seltenes Werk, aber der Annaberger Band ist besonders ausgestattet: Er ist in dunklen Samt eingebunden, den ein aufwendiger Beschlag mit floralen Mustern aus Silberblech ziert. "Das passt zu Annaberg, einer Stadt, der das Silber ab etwa 1500 zu Reichtum und Aufstieg verholfen hat", so Märker.
Bücher, die durch Eintragungen der Leser·innen besonders viel Geschichte transportieren, gibt es auch in der Bibliothek der Theologischen Fakultät Fulda. Diese geht unter anderem auf Bestände der Jesuiten zurück. "Die Jesuiten haben damals nicht nur den Klerus ausgebildet, sie haben auch Schulen vor Ort unterhalten", erklärt Bibliotheksleiterin Alessandra Sorbello Staub. "Ein Buch von Petrus Canisius gibt es vielleicht noch anderswo, aber hier steht es eben mit Eintragungen der Leser. In den Exerzitien von Ignatius von Loyola ist vermerkt, wie die Exerzitien in Fulda gehalten wurden." Anhand der Kommentierungen könne man sehen, wie die verschiedenen Personen mit den Texten gearbeitet haben. "Es ist, als könne man mit ihnen einen Dialog über mehrere Generationen hinweg abbilden."
Bestände sollen zugänglich gemacht werden
Bei einer Schadenserfassung der historischen Bestände fanden sich auch in Fulda Exemplare mit Schimmelspuren. "Das ist nicht nur ein Problem für die Bücher, das ist auch ein Problem des Arbeitsschutzes. Mit schimmeligen Bänden dürfen weder das Personal noch Benutzer·innen arbeiten", erklärt Sorbello Staub. Im BKM-Sonderprogramm werden derzeit 122 Bände gereinigt und gesichert. "Die Nachfrage nach den Beständen war schon immer rege, zumal wir im Rahmen von Fachbeiträgen darauf aufmerksam machen", berichtet Sorbello Staub. "Diese können wir jetzt wieder bedienen."
Auch wenn die Bücher gesichert in den Regalen stehen, lässt sich Bestandserhaltung weiterdenken. Dr. Monika Suchan leitet die Dombibliothek Hildesheim. In ihrem KEK-Modellprojekt geht es um die Gründung eines Notfallverbunds. Die Idee zu dem Projekt keimte, als ein Kabelbrand in der Telefonzentrale Haustechnik und Feuerwehr bewusstmachte, dass es keine echten Notfallpläne für die Institutionen rund um den Domhof gibt. Denn dort gibt es nicht nur die Bibliothek. In dem eng umbauten Bereich, der im Wesentlichen über schmale Pforten zugänglich ist, liegen auch das Dommuseum mit seinem berühmten Schatz und das Bistumsarchiv. "Es geht nicht nur um Brandschutz – 2017 zum Beispiel hatten wir Hochwasser im Dom. Es geht uns bei dem Notfallverbund um alle möglichen Szenarien für die ganz unterschiedlichen Objekte und Räumlichkeiten, die es hier gibt", berichtet Suchan.
Auch hier war schnell klar, dass das Problem nicht nebenbei zu lösen war und eine Telefonliste nicht ausreichen würde. Vielmehr mussten Daten erhoben und Strategien entwickelt werden. "Wir wissen natürlich, was wir haben, aber unter dem Aspekt des Notfalls – wie bekommt man was hier heraus, wo kann was hin – hatten wir den Bestand und auch die Gebäude noch nicht betrachtet." Um den Notfallverbund einzurichten, spricht Suchan mit Zuständigen von Museum, Archiv, Feuerwehr und anderen Museen der Stadt. Auch die Hochschule für Angewandte Wissenschaft und Kunst (HAWK) ist eingebunden. "Es geht jetzt darum, Wissen zu sammeln und Kontakte zu knüpfen, damit wir im Notfall wissen, wer uns helfen kann oder wie wir helfen können", so Suchan.
Auch sie hat festgestellt: "Die Bestandserhaltung und dass diese Geld kostet, ist für die Kirche ein bisschen ein blinder Fleck. Wenn wir von außen, also etwa von der KEK, Unterstützung bekommen, zeigt das den Verantwortlichen, dass wir hier etwas Wichtiges tun." Die Aufgabe ist in der Tat gewaltig: Auf der einen Seite die Vielzahl der Bibliotheken und Archive mit ihren ganz unterschiedlichen Bedarfen, auf der anderen der Mitgliederschwund und die klammen Kassen der Kirchen und Klöster. "Aber es gibt inzwischen viele gute Kooperationen zwischen staatlichen und kirchlichen Einrichtungen", stellt Alessandra Sorbello Staub fest. Wichtig sei, sich der Probleme bewusst zu werden und unkomplizierte Wege zu finden, sie gemeinsam anzugehen.