"Hätte ich früher gewusst, welche historischen Akten auch persönlicher Art sich in öffentlichen Archiven finden lassen – ich hätte die Geschichte meines Großvaters schon vor 20 Jahren recherchiert", sagt Verona Henke (Name geändert). Die 55-Jährige aus dem Münsterland hat Ende vergangenen Jahres einen Vormittag im Archiv des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL) in Münster verbracht. "Ich habe dort Antworten auf Fragen bekommen, die mich mein Leben lang beschäftigt haben." 

So wie Henke ergeht es vielen Menschen, die irgendwann den Mut fassen, die Historie ihrer Vorfahr·innen in Archiven zu recherchieren. Insbesondere in großen Archiven gibt es verschiedenste historische Unterlagen aus Behörden, darunter auch über einzelne Bürger·innen. Zu den am meisten genutzten Beständen gehören Patientenakten – und von diesen sind insbesondere die der psychiatrischen Kliniken gefragt. Zum einen, weil sich gerade in der klinischen Psychiatrie über die Jahrzehnte sowohl in der Medizin als auch im Umgang mit Patient·innen sehr viel verändert hat. Und zum anderen, weil die Akten oft über einen langen Zeitraum geführt wurden und daher viele Informationen enthalten. 

Hier lassen sich Familiengeschichten ergründen

Unzählige Lebenswege von Patient·innen sind in ihnen detailliert festgehalten: warum sie eingeliefert wurden, wie sie behandelt wurden, wie die Klinik ausgestattet war, Korrespondenz der Ärzt·innen und Angehörigen, Gutachten, Verlegungen und vieles mehr. "Solche Informationen sind nicht nur für die historische Forschung von unschätzbarem Wert, sondern auch für Ahnenforschende, Heimatkundige und eben auch Familienmitglieder ehemaliger Patient·innen, die ihre bislang unbekannte Familiengeschichte ergründen wollen", sagt Marcus Stumpf, Leiter des LWL-Archivamts für Westfalen. 

Eingangsbereich des LWL in Münster.
Das LWL-Archivamt für Westfalen agiert auch als Beratungsstelle für andere Archive in Westfalen-Lippe. © Jörg F. Müller

Medizinhistorisch gesehen sind Patientenakten eine Erfindung des 16. Jahrhunderts. Der Nürnberger Stadtarzt Johann Magenbuch zum Beispiel war 1526 einer der ersten, der für seine Patient·innen chronologische Tagebücher mit Namen, Erkrankungen, verordneten Medikamenten und Krankheitsverlauf anlegte. Damals waren das allerdings eher private Tagebücher der Ärzte, die der Erweiterung des eigenen Erfahrungsschatzes dienten. Die Krankengeschichten wirklich patientenorientiert in einer Akte festzuhalten, wurde erst im 19. Jahrhundert üblich, als sich mit dem technischen Fortschritt der Medizin in Europa die Idee verbreitete, Patient·innen in großen Krankenhäusern gezielt zu behandeln. Bis dato waren öffentliche Spitäler eher Versorgungsstätten für die Unterschicht. Wer es sich leisten konnte, ließ den Arzt stattdessen nach Hause kommen und sich dort behandeln. In dieser Zeit wurden auch viele psychiatrische Kliniken gegründet. Zuvor waren die "Irren", wie man Patient·innen mit psychischen Krankheiten oder geistigen Behinderungen seinerzeit noch unverblümt nannte, oft mit Strafgefangenen in sogenannten Tollhäusern gefangen gehalten und im Grunde gar nicht behandelt worden. Doch wie sich an Patientenakten nachvollziehen lässt, glichen auch psychiatrische Kliniken eher Verwahranstalten als Therapiezentren. In den meisten Fällen blieb das noch bis in die 1970er-Jahre so. Erst 1975 stellte eine Enquête-Kommission die beklagenswerten Zustände in Deutschlands Psychiatrien fest und sorgte fortan für einen professionelleren, individuelleren und vor allem mehr auf Heilung ausgerichteten Umgang mit den Patient·innen. Zumal es nun auch mehr Medikamente gab, die nicht nur dem Ruhigstellen dienten. 

Eine Zeitzeugin gibt den entscheidenden Hinweis

Diese Umstände sollten auch für Verona Henkes Großvater eine Rolle spielen. Die Münsterländerin, im Beruf Sprachdozentin, geht dem Schicksal des 1946 Verstorbenen seit vergangenem Herbst aktiv nach. "Als Kind erzählten mir meine Mutter und Großmutter immer, er habe sich im Krieg bei der Arbeit als Wetterinspektor auf Flugplätzen eine Lungenentzündung zugezogen, an der er dann gestorben sei. Sie hoben ihn immer auf ein Podest." Als die Mutter später das Narrativ änderte – Henke war da etwa zwanzig Jahre alt –, wurde die Tochter stutzig: "Jetzt hieß es, er habe sich die Lungenentzündung bei der Beerdigung des Kardinals von Galen in Münster geholt." Henke begann zu zweifeln. Doch niemand in der Familie konnte oder wollte ihr erzählen, wie ihr Großvater tatsächlich gestorben war. 

Erst über 30 Jahre später, als sie 2021 eine entfernte Verwandte traf und darauf ansprach – diese war nach der kurz zuvor verstorbenen Großmutter die letzte verbliebene Zeitzeugin des Kriegs in der Familie –, erhielt Verona Henke konkrete Hinweise auf eine Lebenslüge. Sie wollte dieser auf den Grund gehen, handfeste Beweise finden, dass ihre Zweifel berechtigt waren. Eine Bekannte, die sich mit Ahnenforschung auskannte, gab Henke Tipps: Beim Kreisarchiv konnte sie die Geburtsurkunde des Großvaters einsehen, in der handschriftlich vermerkt war, er sei in Gütersloh verstorben. Dort wiederum fand sie die Sterbeurkunde, die verzeichnete, dies sei in der Bissingstraße geschehen. Doch die gab es in Gütersloh nicht. Henkes Bekannte fand heraus, dass die Straße inzwischen umbenannt worden war und dort die psychiatrische LWL-Klinik liegt, die damals noch Provinzial-Heilanstalt hieß. War der Großvater womöglich dort als Patient gestorben? 

Patientenakte aus dem LWL
Auf eine kurze Beschreibung des Krankheitsbilds folgen einzelne Regelungen für Pflegeangelegenheiten. © Jörg F. Müller

So gelangte Henke zum LWL, der 1953 aus dem Provinzialverband Westfalen hervorgegangen war. Im Archiv werden unter anderem die Patientenakten der psychiatrischen Einrichtungen in der Region verwahrt, aktuell insgesamt 130 Kliniken, Ambulanzen, Pflegezentren und Institute. Die Dokumente gehen bis ins Jahr 1814 zurück, als die erste Heilanstalt in Marsberg ihre Arbeit aufnahm. "Ich dachte, mit meinem rein privaten Anliegen sei ich da eher lästig", sagt Verona Henke. "Aber das Gegenteil war der Fall: Die Archivare haben mir auf meine Anfrage sofort geantwortet. Sie bestätigten, dass mein Großvater im April 1946 zehn Tage lang Patient in der Provinzial- Heilanstalt und dann verstorben war. Ich könne mir die Akte vor Ort selbst ansehen. Und dann haben sie mich bei der weiteren Recherche unterstützt, ja, sich sogar regelrecht gefreut, dass sie mir helfen konnten, die Wahrheit über meinen Großvater ans Licht zu bringen." 

"Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken waren stigmatisiert"

Dass von seinem Klinikaufenthalt in den Erzählungen nie die Rede war, wundert die Archivar·innen des LWL nicht. Sie kennen das: "Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken, die man damals noch ganz offiziell 'Idiotenanstalten' nannte, waren stigmatisiert und wurden in vielen Familien verschwiegen", erklärt Katharina Tiemann, Referatsleiterin am LWL-Archivamt. Die "Insassen" galten als "kaputte" Menschen ohne Hoffnung auf Besserung. Entsprechend wurden sie behandelt: "Die Patienten waren ausgeschlossen und eingeschlossen zugleich", schreibt der Professor für Sozialpsychologie und Wissenschaftspublizist Asmus Finzen in einem Aufsatz über die Psychiatrie-Enquête. "Ausgeschlossen aus der Gemeinschaft der Gesunden; eingeschlossen in den Anstalten." 80 bis 90 Prozent der schwerkranken Patient·innen seien dort nach ihrer ersten Einweisung lebenslang geblieben. Und völlig entmündigt worden: "Sie verfügten über keinerlei Eigentum: keine eigene Zahnbürste, kein eigenes Handtuch, selbst ihre Eheringe nahm man ihnen ab. Nicht einmal die Anstaltskleidung war ihre eigene: In vielen Häusern legten sie diese abends ab und bekamen morgens neue von einem großen Haufen. Die WCs waren oft offen – mitten in den riesigen Schlafsälen." 

Wie es in den Anstalten zuging, war in der Öffentlichkeit kaum bekannt. Niemand wollte mit den "Irren" zu tun oder gar so jemanden in der Familie haben. Bis sich das mit den Reformen der 1970er-Jahre änderte, beschrieb selbst das medizinische Personal die Patient·innen mit herablassenden, entwürdigenden Vokabeln, die uns heute befremden. "Viele Besucher·innen bei uns müssen erst einmal schlucken, wenn sie so etwas lesen", sagt Katharina Tiemann. Gemeinsam mit zwei Kolleg·innen kümmert sie sich um die gesammelten historischen Akten aus ganz Westfalen-Lippe. 

Katharina Tiemann berät Besucherin.
Katharina Tiemann betreut die Bestände, unterstützt aber auch Besucher·innen bei der Recherche. © Jörg F. Müller

Das LWL-Archivamt ist gut ausgestattet, verfügt über einen Alt- und einen modernen Zweckbau, dessen fensterlose Räume das Archivgut bei idealen 16 bis 18 Grad Celsius und 50 bis 55 Prozent Luftfeuchte halten. Im Lesesaal gibt es einen Scanner, mit dem Besucher·innen digitale Reproduktionen von interessanten Papieren anfertigen dürfen. Sie können sich aber auch gegen eine Gebühr Scans senden lassen. In den Magazinen des Archivs stapeln sich insgesamt gut 9.500 Regalmeter Archivkartons, in denen Akten aus Behörden, Kultureinrichtungen, Schulen und Kinderheimen lagern. Allein über 700 Meter belegen die rund 100.000 Patientenakten der angeschlossenen psychiatrischen Einrichtungen, die diese nach 30 Jahren der eigenen Verwaltung zur langfristigen Archivierung anliefern. "Wir können aber nur einen Teil der insgesamt entstandenen Unterlagen aufnehmen", sagt Archivar Hans-Jürgen Höötmann. Kein Landesarchiv könne alle Krankenberichte lagern. Beim LWL-Archivamt hat man sich entschieden, nur Akten mit bestimmten Anfangsbuchstaben der Patientennachnamen auszuwählen, sodass rund zehn Prozent des Gesamtbestands erhalten bleiben. Jedes Archiv hat seine eigene Regel, um einen möglichst repräsentativen Querschnitt zu bewahren, der die meisten Rechercheanfragen befriedigen kann. 

Die Arbeit im Archiv wird kontinuierlich verbessert

Bei den Patientenakten sind das z. B. historische Studien zum Wandel der Unterbringungs- und Behandlungsmethoden, Medikamentenmissbrauch, Euthanasie in der NS-Zeit oder auch zur sich über die Zeit wandelnden Fachsprache der Ärzteschaft. "Wir sind oft erstaunt, was Forschende aus den Akten alles herausholen", sagt Höötmann. "Und die Ergebnisse interessieren uns nicht nur aus Neugier, sondern auch, weil wir damit unsere eigene Arbeit verbessern. Je mehr wir über den Inhalt der Akten wissen, desto besser können wir Anfragen bedienen." 

Da nur eine Auswahl aufgehoben werden kann, ist es umso wichtiger, diese verbleibenden Zeugnisse der Medizinhistorie zu erhalten. Das gilt jedoch nicht nur im LWL-Archivamt. Dessen Förderung steht in einer Reihe mit ähnlichen KEK-Projekten deutschlandweit: Das Krankenhausmuseum in Bremen, das Stadtarchiv Dresden, das Landesarchiv Sachsen-Anhalt in Magdeburg, das Archiv der Philipps-Universität Marburg, das Zentralmagazin Naturwissenschaftlicher Sammlungen der Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg und das Universitätsarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin – sie alle sichern ebenfalls mit KEK-Mitteln Patienten- und andere Gesundheitsakten für die Nachwelt. 

Quellen für die vergleichende Medizingeschichte

In Magdeburg etwa geht es um Bestände der Heil- und Pflegeanstalt Hoym und des Landeskrankenhauses Bernburg, die stark genutzt werden, etwa um die Gesundheitspolitik der DDR mit der BRD zu vergleichen. In Ost und West herrschten bis in die 1970er-Jahre ganz ähnliche Behandlungsmethoden, viele psychiatrische Patient·innen wurden eher weggeschlossen als therapiert. Während sich die Behandlungen dann im Westen besserten, man individueller auf die Fälle einging, blieb der Ansatz im Osten bis zur Wende weitgehend unverändert. "Das Thema der Enthospitalisierung, also die Wandlung von einer Verwahranstalt in eine offene Betreuungseinrichtung, spiegelt sich in den Akten wider", sagt Thomas Brünnler, Archivar am Landesarchiv Sachsen-Anhalt. "In Hoym etwa hielt sie Einzug, als 1990 ein aus Niedersachsen stammender neuer Geschäftsführer kam." Zudem gebe es Akten, die den Unrechtsstaat dokumentieren: Immer wieder wurden in der DDR auch Menschen in Anstalten untergebracht, die nicht systemkonform waren. 

Starker Einbandschaden.
Bei diesem Band aus dem Stadtarchiv Dresden hat sich der Buchrücken abgelöst. © Jörg F. Müller

In Dresden hingegen werden nicht nur Patientenakten, sondern auch weitere Gesundheitsakten gesäubert und instandgesetzt. Die älteste stammt von 1474, es ist die damalige Pest- und Seuchenordnung der Stadt. Das Papier ist zwar noch in gutem Zustand, da es keine Säure enthält, aber der Einband ist beschädigt, das Siegel gebrochen, Bünde sind gerissen und einzelne Blätter lose oder von Tintenfraß betroffen. Das soll behoben werden, damit Forschende sich auch in Zukunft noch informieren können, wie damals mit Seuchen umgegangen wurde – etwa im Vergleich mit der Corona-Pandemie. "Auch seinerzeit standen die Verantwortlichen in Kontakt mit Kollegen in anderen Städten und Ländern, um zu verfolgen, wie Pest oder Cholera wüteten, sich ausbreiteten und womöglich erfolgreich bekämpft wurden. So konnten sie sich besser wappnen", sagt Stefan Dornheim vom Stadtarchiv Dresden. Solche Korrespondenz ist in den Akten festgehalten. Außerdem die getroffenen Maßnahmen wie etwa die Schließung der Stadttore, die Einrichtung von Pestilenzhäusern zur Separierung der Kranken sowie die Ausgabe von Contagionspässen, die nachwiesen, dass sich die Inhaber·innen zuletzt in keinem verseuchten Gebiet aufgehalten hatten. "Man hatte damals schon ganz ähnliche Ideen wie heute, um eine Pandemie einzudämmen", sagt Dornheim. 

Nicht nur stigmatisieren, sondern auch helfen

Bei allem Entsetzen über Zustände und Umgang in den Heilanstalten finden sich in den Akten auch Lichtblicke. So habe die Heilanstalt Marsberg, die in Westfalen erste psychiatrische Klinik, zu Beginn des 19. Jahrhundert ihre ersten 20 Patient·innen sehr fortschrittlich und vorbildlich behandelt, berichtet Hans-Jürgen Höötmann. Erst später wurden es immer mehr Patient·innen und die Ärzte waren oft überfordert. Aber nicht immer: Auch zu jener Zeit gab es Menschen, die das erlitten, was wir heute "Burn-out" oder "Depression" nennen. Harald Jenner, Archivar am Krankenhausmuseum Bremen, zieht eine Mappe von 1854 vom Stapel: Darin wird beschrieben, wie eine 31jährige Frau wegen "Melancholia" eingeliefert wurde und nach vier Wochen entlassen wurde, weil es ihr wieder besser ging. "Ein solcher Zeitraum war für die damalige Zeit durchaus typisch", sagt der Fachmann. Damals wie heute seien Menschen in Lebenskrisen geraten, etwa infolge der Weltwirtschaftskrise. Und da konnte ihnen sehr wohl geholfen werden.

Bei der Archivierung der Patientenakten geht es darum, einen Querschnitt der Fälle zu bewahren. Hinzu kommen einige besonders interessante Akten, etwa von prominenten oder medizinisch spannenden Patient·innen. Für so etwas haben die Archivar·innen, wenn sie Akten angeboten bekommen, einen geschulten Blick. Zudem erhalten sie oft bereits Hinweise der liefernden Institutionen. Es geht aber natürlich auch darum, die dauerhafte Sicherung der Akten zu gewährleisten. Deshalb ist ein weiterer Schritt wichtig, dem jede eingehende Lieferung unterzogen wird: die Kühlkammer. Das LWL-Archivamt verfügt über eine Art begehbare Gefriertruhe, einen rund 20 Quadratmeter großen Raum, in dem das Papier zunächst lagert, bevor es weiterverarbeitet und archiviert wird. 

Gebäudeplan mit Foto.
Neben Akten werden auch Pläne und Fotos im LWL-Archivamt verwahrt. Hier sind Unterlagen zu Umbauarbeiten der Landesheilanstalt Gütersloh zu sehen.© Jörg F. Müller

Das dient vor allem dazu, Papierfischchen abzutöten. Denn diese mit dem Silberfischchen eng verwandten Insekten sind neben Licht, Wasser und Schimmel der größte Feind von Archivgut. "Sie fressen gern Papier und leben häufig inmitten alter Aktenbestände", sagt Katharina Tiemann. "Ihre winzigen Eier kann man sich aber auch über Verpackungsmaterial, Toilettenpapier und Buchlieferungen einhandeln. Das kann jedem passieren." Da das LWL-Archivamt mehrere Tonnen Akten pro Jahr erhält, sei das Risiko relativ hoch. Die Kühlkammer aber ist ein wirksames Gegenmittel. 

Doch auch von Schädlingen befreite, klimatisch ideal gelagerte Akten nehmen mit der Zeit Schaden. Allein durch die Nutzung und weil Holzschliffpapier, das seit dem 19. Jahrhundert eingesetzt wird, oft Säure enthält, die es mit den Jahrzehnten zersetzt. Deshalb müssen solche Akten beizeiten gereinigt und entsäuert werden. Für einzelne Exemplare haben große Archive eine eigene Werkstatt. Doch eine massenhafte Reinigung und Entsäuerung erfolgt industriell durch spezialisierte Unternehmen. Um dies zu finanzieren, erhalten die Archive Fördermittel. Im LWL etwa startete bereits 2020 ein Projekt im BKM-Sonderprogramm, das alle Patientenakten betrifft. Aktuell sind die Bestände der sieben ältesten Kliniken an der Reihe – von der 1814 gegründeten Heilanstalt in Marsberg bis zu der 1919 gegründeten in Gütersloh. So sollen die Akten noch vielen Nachfahren wie Verona Henke wertvolles Wissen über die Vergangenheit liefern können. 

Die Recherche in den Akten geht weiter

Als Henke im Dezember im Lesesaal des LWL-Archivamts für Westfalen die Unterlagen zu ihrem Großvater studierte, las sie, was damals wirklich geschah: Nach dem Krieg durfte er vorerst nicht in seinen Beruf als Lehrer zurück, da es im Zuge der Entnazifizierung Zweifel an seiner Gesinnung gab. Schließlich hatte er den Nationalsozialisten als Offizier treu gedient. "Das konnte er wohl nicht ertragen, jedenfalls wurde es in den Akten darauf zurückgeführt, dass er eine reaktive Psychose entwickelte bis hin zu einem Selbstmordversuch", sagt Henke. Für eine Traumatisierung im Krieg gibt es keine Hinweise, das hatte auch die Großmutter nie angesprochen. Doch mit der Psychose kam sie nicht zurecht. Nach dem Selbstmordversuch ließ sie ihren Mann in die Psychiatrie einweisen. Er litt wohl tatsächlich an einer Bronchitis, aber als er starb, war diese den Aufzeichnungen zufolge nicht mehr akut. Woran genau er starb, kann nicht mehr endgültig geklärt werden. "Aber er lag in der geschlossenen Abteilung, war in einem schlechten Allgemeinzustand und wurde sicher nicht mit Samthandschuhen angefasst", vermutet Henke. "Ich glaube, dass er ein überzeugter Nazi war, der einfach nicht wahrhaben wollte und verrückt darüber wurde, dass man ihn fallen ließ, obwohl er doch nur seinem Land gedient hatte." 

Womöglich sei er auch mit Medikamenten vollgepumpt gewesen, mutmaßt Henke. Jedenfalls sei er nicht der erste, der an einer Psychose mit all ihren Begleiterscheinungen und noch dazu geschwächt durch eine Erkrankung gestorben sei. Zu wissen, dass sie mit ihren Zweifeln an den Erzählungen ihrer Mutter und Großmutter Recht hatte, ist für Verona Henke eine große Bestätigung. Doch sie will noch weiter recherchieren, womöglich weitere Akten finden. Bislang ist es nur eine Vermutung, dass der Großvater überzeugter Nationalsozialist war. "Meine Mutter und Großmutter haben das stets bestritten. Diesen Aspekt will ich noch genauer beleuchten. Jetzt weiß ich ja, wie so etwas geht."