"So etwas habe ich noch nicht erlebt." Karsten Sichel arbeitet seit fast 30 Jahren als Archivar beim Sächsischen Wirtschaftsarchiv in Leipzig. Regelmäßig werden dem Archiv Firmennachlässe angeboten, um das schriftliche Gedächtnis von Unternehmen fach- und sachgerecht zu pflegen. Doch der Fall Osterloh sticht heraus. 

Die 1880 gegründete Leipziger Firma "Osterloh-Modelle e. K." gehörte einst zu den europaweit führenden Herstellern von Pflanzen- und Tiermodellen, wie sie im Schulunterricht und in Universitäten bis heute verwendet werden. An Blütenmodellen und Roggenähren lässt sich plastisch der Aufbau von Pflanzen vermitteln. Osterloh exportierte seine Lehrmodelle in die ganze Welt.  Auch in der DDR gehörten sie zum Schulalltag.

Dokumente vor der Entrümplung gerettet

Doch das digitale Zeitalter und 3-D-Visualisierungen machten die Osterloh-Modelle zunehmend überflüssig. Nach über 140 Jahren musste der Inhaber der dritten Generation, Hans-Jürgen Poppe, Anfang 2023 den Betrieb aufgeben. Ein Haus voller Unterlagen und Werkstattmaterial, Wohn- und Betriebsstätte zugleich, drohte mit dessen Verkauf schlicht entrümpelt zu werden. "Wir sind in letzter Minute gekommen", erinnert sich Sichel an die Rettungsaktion an einem nassen Dezembertag 2022. 

Karsten Sichel
Karsten Sichel arbeitet seit fast 30 Jahren als Archivar im Sächsischen Wirtschaftsarchiv in Leipzig. Foto © Jörg F. Müller

Er zeigt auf einem Computerbildschirm Fotos von dem, was er dort vorfand: Regale voller unsortierter Akten, viele durch Schmutz und Wasser beschädigt, Werkbänke mit Dutzenden Farbdosen, alte Modell-Formen, Keller und einen Dachboden voller Schätze. Drei Mal durchkämmte Karsten Sichel das Haus nach Bewahrenswertem. Jeder Raum brachte neue Funde. "Manchmal ist es für Archivare wirklich besser, wenn die Leute nichts wegwerfen", sagt er. Wie in diesem Fall. Aus den Augen, aus dem Sinn. Statt Unterlagen und Materialien zu entsorgen, hatte der Besitzer sie einfach verstaut. Jahrzehnt für Jahrzehnt.

Schließlich transportierte Karsten Sichel sieben Meter Unterlagen aus 140 Jahren in Umzugskartons in das Sächsische Wirtschaftsarchiv. Dort können Journalist·innen, Wissenschaftler·innen und private Nutzer·innen derzeit bereits Einblick in 360 Bestände nehmen. Leipzig war schon immer ein bedeutender Wirtschaftsstandort mit global agierenden Unternehmen. Insgesamt 3,5 Kilometer Akten stehen in den Magazinen des Archivs hinter sicheren Stahltüren, drei festangestellte Mitarbeitende betreuen den Bestand und machen ihn für die Öffentlichkeit nutzbar. Auch das Osterloh-Archiv findet dort nun eine neue Heimat.

Unterlagen sollen wieder nutzbar werden

Rund die Hälfte des geretteten Materials befand sich in einem recht guten Zustand, die andere war verschmutzt und potentiell gesundheitsgefährdend für Nutzer·innen. "Für die Forschung brauchen wir gereinigte sporenfreie Papiere", betont Dr. Frank Steinheimer. Er leitet das Zentralmagazin Naturwissenschaftlicher Sammlungen (ZNS) an der Martin-Luther-Universität in Halle. Das ZNS umfasst in Europa einzigartige naturkundliche Sammlungen, zu denen auch einige Osterloh-Modelle gehören. Frank Steinheimer arbeitete von Beginn an gemeinsam mit dem Sächsischen Wirtschaftsarchiv daran, den Osterloh-Bestand zu sichern und die Unterlagen der Öffentlichkeit und Forschung zugänglich zu machen. Nicht nur Besucher·innen des Archivs sollen Einblick in den Firmennachlass erhalten. In einem nachfolgenden Forschungsprojekt soll der Osterloh-Bestand in Teilen digitalisiert werden, um mit ihm international vernetzt zu arbeiten und zu forschen. Auch für diesen Schritt ist zunächst eine konservatorische Sicherung notwendig.

Trockenreinigung
Die Dokumente wurden trockengereinigt. Foto © Jörg F. Müller

Ein Fachdienstleister in Leipzig erhielt daher 2024 den Zuschlag, dreieinhalb Archivmeter konservatorisch zu behandeln und die Unterlagen fachgerecht zu säubern. Die KEK fördert diese Konservierungsmaßnahme. Blatt für Blatt befreien Mitarbeiterinnen die Seiten von verrosteten Klammern, reinigen sie mit Latexschwämmen von Schmutz und Schimmelsporen und verpacken sie anschließend in Archivhüllen und -kartons. Erst dann können Archivar·innen und Nutzer·innen in den Räumen des Sächsischen Wirtschaftsarchivs mit den Unterlagen ohne Gesundheitsgefährdung arbeiten. Für die Einrichtung ist es die erste KEK-Förderung und Karsten Sichel ist dankbar für die Unterstützung. "Wir hätten das aus unseren Mitteln nicht stemmen können." 

Unter den Papieren befindet sich so mancher Schatz: Die Diplom-Restauratorin Nicole Klinger öffnet auf einem Arbeitstisch einen vergilbten Kartonumschlag. Ganz obenauf liegt eine Zeichnung der Süßwassermuschel "Unio". Das Blatt Papier ist brüchig, an den Rändern unvollständig und zum Teil durch Feuchtigkeit beschädigt. Klinger trennt routiniert und behutsam die durch Schimmelpilze verklebten Seiten mit einem kleinen Spatel. In dieser Box sind alle Studien und Zeichnungen, Fachliteratur und Schriftwechsel über das bemerkenswerte "Unio"-Muschel-Modell versammelt. Es ist ein Glücksfall, denn von der Muschel sind alle Unterlagen und zudem auch einige Modelle erhalten.  

Muschel Unio
Zur Muschel "Unio" sind alle Unterlagen erhalten. Foto © Julia Bolte

"Die Muschel war ein Spitzenstück und wurde auch von anderen Modellmachern kopiert", sagt Frank Steinheimer. Die Blätter in der Schachtel geben Aufschluss darüber, wie das Osterloh-Modell entstand und welche Schritte es von der ersten Idee bis zum fertigen Modell durchlief. Steinheimer vermutet, dass Paul Osterloh die Muschel selber sezierte und analysierte, sie zeichnete, dann Gussformen anfertigen und sie bemalen ließ. "Aber wir wissen nicht genau, wie der Prozess verlief. Dies ist eine einzigartige Chance, es anhand der Archivunterlagen nachzuvollziehen." Ein Exemplar der Muschel steht in der ZNS-Sammlung in Halle. Insgesamt 126 Modelle hat der letzte Osterloh-Inhaber der Sammlung vermacht und war sehr froh, sein Lebenswerk in guten Händen zu wissen. Für Frank Steinheimer ein wunderbares Geschenk. "Die hätten wir uns sonst nie leisten können."

Die Dokumente bieten viel Potenzial für die Forschung

Ihm schweben bereits Themen für Bachelor- und Masterarbeiten vor, in denen Studierende zum Beispiel didaktische Fragestellungen anhand des Osterloh-Archivs erforschen können. Wie kann man eine Pflanze so aufbereiten, dass ihr Modell ein hilfreiches Lehrmaterial darstellt? Wie verhält es sich zum Original? Auch für die Werkstoffforschung bieten sich Ansatzpunkte, denn das Material der Modelle änderte sich über die 140 Jahre lange Firmengeschichte. Anfangs waren sie noch aus Pappmaschee, später dann aus Kunststoff.  

Und auch wer sich für Wirtschafts- und Sozialgeschichte interessiert, wird in den Osterloh-Akten, in Geschäftsbüchern und Broschüren, Bilanzen, Inventar und dem Schriftwechsel mit Behörden fündig. Osterloh durchlebte fünf politische Systeme, vom Kaiserreich bis zum wiedervereinigten Deutschland. Die Besitzer durften selbst in DDR-Zeiten privatwirtschaftlich agieren und exportieren. Zum Bestand gehört ebenfalls eine Art Tagebuch, neun Mappen mit Fotos, Unterlagen. Diese Tagebücher hatte Alfred Osterloh in der 2. Generation (1892-1956) geführt. Das Osterloh-Archiv ist also vieles in einem: Es vereint Wirtschafts- und Sozialgeschichte, erzählt vom Auf- und Abstieg eines Unternehmens und seines Produkts, von Zeitläufen, wissenschaftlichem und didaktischem Fortschritt. Archivar Karsten Sichel freut sich darauf, den Bestand bald der interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung stellen zu können: "Das ist ein echter Glücksfall."