Die Universität lässt aktuell einen einmaligen Quellenschatz restaurieren: die historischen Patientenakten der psychiatrischen Universitätsklinik. Während 232 laufende Meter noch fachgerecht aufgearbeitet werden, beginnt die Forschung an den bedeutenden Akten bereits. Noch sind nicht alle der etwa 50.000 Akten restauriert und im Archiv der Universität untergebracht. Eine erste Durchsicht hat der Medizinhistoriker PD Dr. Florian Bruns aber bereits vorgenommen und ist dabei auf einige interessante Befunde gestoßen. "Psychiatriegeschichte ist immer auch Gesellschaftsgeschichte. Die Akten geben nicht nur einen Einblick in die Geschichte des Fachs. Sie zeigen auch, was die Menschen damals bewegt hat, welche Ängste und Sorgen sie hatten", sagt er.

Und sie offenbaren zum Teil auch den fast schon zynischen Umgang mit den Patientinnen und Patienten. Da sind zum Beispiel die Akten aus der Zeit des Nationalsozialismus zu einem Mann, der 1939 zwangssterilisiert wurde, weil er nach Meinung der Ärzte unter "angeborenem Schwachsinn" litt. "Das war bei den Nationalsozialisten die häufigste Diagnose. Sie wurde als Grund für die Unfruchtbarmachung der Menschen herangezogen", erklärt der Forscher. Die Akten zu dem Patienten geben Einblick in den Verlauf der Diagnose: Akribisch werden Ergebnisse von Intelligenztests und Antworten auf Wissensfragen protokolliert. Besonders zynisch ist für Bruns die Aufforderung, den Satz "Gemeinnutz geht vor Eigennutz" zu erklären. "Genau dieser Leitspruch diente seinerzeit als Rechtfertigung der Zwangssterilisation."

Reinigung von Akte
Die Psychiatrieakten dokumentieren nicht nur Krankheits-, sondern auch Menschenbilder. © Universität Halle, Jens Schlüter

Der Großteil der historischen Patientenakten wird aktuell im Zentrum für Bucherhaltung Leipzig gereinigt, dekontaminiert, entsäuert und archivgerecht verpackt. Möglich wurde das durch eine Förderung aus dem Sonderprogramm der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) für die Erhaltung schriftlichen Kulturguts. Die Medizinische Fakultät und das Rektorat unterstützen das Projekt mit weiteren Mitteln. Nach den Erhaltungsmaßnahmen werden die Akten zur fachgerechten Lagerung in das Uni-Archiv gebracht. Dort werden sie dauerhaft aufbewahrt, erschlossen und für die Forschung zugänglich gemacht. Zuvor waren die Akten in der Universitätsklinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik untergebracht.

100 Jahre Psychiatrie-Geschichte

Dass die Unterlagen nach so langer Zeit noch erhalten sind, ist ein glücklicher Zufall: "Eigentlich werden Akten, die älter als 30 Jahre sind, vernichtet", sagt Dr. Bente Flier, die an der Klinik als Wissenschaftsmanagerin arbeitet und das Restaurierungsprojekt gemeinsam mit dem Archiv und dem Institut für Geschichte und Ethik der Medizin initiiert hat. "Es gab offenbar immer Menschen, die den Wert der Akten erkannt haben und sie deshalb aufbewahrt haben", sagt Flier. Als sie 2016 mit den Vorbereitungen für das Projekt begann, ahnte sie noch nicht, wie weit die Akten zurückreichen. "Ich war überwältigt, als ich Akten aus der Kaiserzeit gesehen habe. Das sind Zeitdokumente, die man in den Händen hält. Die Akten sind handschriftlich und trotzdem sehr ausführlich, fast liebevoll geführt. Heute sind Krankenakten deutlich nüchterner", sagt Flier. Die historischen Psychiatrieakten umfassen den Zeitraum von 1888 bis 1989. Ähnliche Bestände sind bislang nicht bekannt.

Für Forscher wie Florian Bruns sind die Akten ein einmaliger Untersuchungsgegenstand, weil sie die Arbeit und den Alltag der Klinik in vier politischen Systemen widerspiegeln: vom deutschen Kaiserreich über die Weimarer Republik und den Nationalsozialismus bis hin zur DDR. Insbesondere in der DDR kam der Klinik in Halle eine zentrale Rolle bei der Erprobung neuer Therapiekonzepte zu. Der Einfluss des SED-Regimes auf die psychiatrische Praxis ist trotzdem noch weitgehend unerforscht. Ähnliches gilt für die Zeit des Nationalsozialismus, auch wenn die medizinhistorische Forschung hier in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht hat.

Bente Flier
Bente Flier – hier im Universitätsarchiv – hat das Projekt mit initiiert. © Universität Halle, Jens Schlüter

Die ersten restaurierten Akten werden im Archiv bereits verzeichnet. Vollständig erschlossen sind sie aber natürlich noch nicht. Gewissermaßen macht das auch den Reiz an der Recherche in den Akten aus, sagt Bruns und spricht beispielsweise von privaten Briefen, die er zufällig beim Öffnen der Akten entdeckte. Dabei handelte es sich um den Briefwechsel der Ehefrau eines Patienten mit dem damaligen Leiter der Klinik, Geheimrat Prof. Dr. Gabriel Anton, nach dem Ersten Weltkrieg. Die beiden beraten über die Behandlung ihres Mannes. Die Frau möchte wissen, wann ihr Mann entlassen wird, weil sie zusammen ein großes Hotel führen.

Inspiration für Forschung

Bruns hat bereits erste Ideen für weitere Forschungsprojekte: Denkbar sei etwa eine Untersuchung dazu, wie in der Klinik mit Homosexualität oder Transsexualität umgegangen wurde. "Bisher weiß man nur wenig darüber, ob die Menschen in der Psychiatrie vorstellig wurden und wie sie behandelt wurden." Auch der Umgang mit politischen Gegnern lasse sich anhand der Akten womöglich beleuchten. Bereits während der Novemberrevolution 1918/19 habe man versucht, die Revolutionäre als geisteskrank zu diffamieren, sagt Bruns. Was viele heute nicht wissen: Auch Halle gehörte zu den Zentren der Revolution.

Nicht zuletzt helfen die Akten dabei, die Geschichte der Psychiatrie aufzuarbeiten: Wie wurde zum Beispiel die Elektrokrampftherapie in Halle eingesetzt oder wann begann der Einsatz von Psychopharmaka in der DDR? All das sind mögliche Ansatzpunkte für weitere Projekte, in denen sich auch zeigen lässt, wie den Patientinnen und Patienten durch ausgereiftere Behandlungsmethoden immer besser geholfen werden konnte. Zur Erforschung dieser einzigartigen Quellen sollen in den kommenden Jahren weitere Partner in der Universität einbezogen werden, zum Beispiel die Rektoratskommission zur Aufarbeitung der Universitätsgeschichte in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts.

Die Akten stehen perspektivisch übrigens nicht nur für die Forschung zur Verfügung: Nach der Erschließung können sich auch Angehörige einstiger Patientinnen und Patienten an das Archiv wenden und dort Einsicht in die Unterlagen beantragen.