Die ganze Welt auf Papier abzubilden, war schon immer ein verwegenes Unterfangen. Nicht umsonst sind Atlanten meist entweder groß oder vielbändig oder beides. Die Stadtbibliothek in Bautzen besitzt ein ganz besonderes Exemplar: einen unikalen Sammelband, größer als Großfolio, mit über 200 Karten aus dem 18. Jahrhundert. Die Oberlausitzische Bibliothek der Wissenschaften im 50 Kilometer entfernten Görlitz beherbergt die seltene französische Ausgabe des zwölfbändigen Großen Atlas, des "Grand Atlas ou Cosmographie blaviane", von 1663 aus der Werkstatt des renommierten Amsterdamer Kartografen Joan Blaeu  (1596 – 1673). Beide Werke haben in den letzten Jahrhunderten ganz offensichtlich nicht nur der Dekoration gedient, sondern weisen erhebliche Gebrauchsspuren auf. Beide wurde für KEK-Modellprojekte ausgewählt. 

Der Große Atlas als ambitioniertes Kartografieprojekt

Steffen Menzel mit dem Grand Atlas
Dr. Steffen Menzel leitet die Oberlausitzische Bibliothek der Wissenschaften. Foto © Jörg F. Müller

"Der Grand Atlas gilt als das teuerste Werk seiner Zeit und das aufwändigste jemals realisierte Kartografieprojekt", berichtet Steffen Menzel, der Leiter der Görlitzer Bibliothek: "Es kostete etwa den Jahreslohn eines gutverdienenden Handwerkers und wurde deshalb vor allem von Universitätsbibliotheken oder Fürstenhöfen angeschafft." In Görlitz allerdings fand das 600 Karten und 3.000 Textseiten umfassende Werk seinen Weg in eine Stadt- und Schulbibliothek: Johann Gottfried Geißler (1726 – 1800) war einige Jahre lang Konrektor des Görlitzer Gymnasium Augustum und qua Amt Leiter der dortigen Bibliothek, bevor ihn seine Karriere über Zwischenstationen nach Gotha führte. Dort baute er als herzoglicher Bibliothekar die Bibliothek der Herzogs Ernst II. (1745 – 1804) aus. "Dabei ist er wohl auch in den Besitz des Atlanten gekommen", erklärt Menzel. Im Jahr 1800 verkaufte Geißler ihn für 16 Reichstaler an die Görlitzer Bibliothek. "Ein Spottpreis", sagt Menzel. Allein der Transport des 80 Kilogramm schweren Werks nach Görlitz habe fast noch einmal dasselbe gekostet. 

Der Große Atlas spiegelt das geografische Wissen seiner Zeit. "Die Kartografenfamilie Blaeu hat eng mit der Niederländischen Ostindien-Kompanie zusammengearbeitet. Die war vor allem in Asien präsent und an aktuellem Kartematerial sehr interessiert. Zugleich haben die Händler Informationen mit zurückgebracht, haben bemerkt, wenn an den Karten etwas nicht stimmt, das war ein Geben und Nehmen", berichtet Menzel. Dem Wissensstand entsprechend ist der Band über England sehr detailliert, über Asien ist einiges bekannt, das Innere von Afrika hingegen ist weitgehend leer, die Ozeane voller Ungeheuer. "Der Atlas enthält auch eine Karte der Oberlausitz, allerdings hat man das Wappen nicht blau-gelb, sondern rot koloriert", so Menzel. "Da waren die Illustratoren wohl falsch informiert."

Behutsamer Umgang mit dem Kartenschatz

Die Görlitzer Stadt- und Schulbibliothek stand zweimal in der Woche allen Bürgern offen – und der Atlas mit seinen bis heute in kraftvollen Farben leuchtenden Illustrationen fand offenbar reges Interesse. Dieses hinterließ Spuren. Die Einbände waren angestoßen und verformt, manche hatten Fehlstellen, einige Karten waren locker und schauten über den Rand hinaus. "Das ist natürlich Gift für die Karten, bei Gebrauch reißen sie ein oder verknicken", erklärt Menzel. Inzwischen sind die Schäden behoben, die Restaurierung des Großen Atlas ist abgeschlossen. In schützende Boxen verpackt, die ihre Handhabung erleichtern, sind die Bände zurück in der Görlitzer Bibliothek. Manchmal wird ein Band für eine Ausstellung hervorgeholt: "Vor allem das Bild im ersten Band, auf dem die damals bekannten Kontinente Europa, Asien, Amerika und Afrika allegorisch durch vier Frauengestalten dargestellt sind, weckt immer wieder Begeisterung", berichtet Menzel. 

Atlas
Der Atlas gibt Auskunft über historische Katographiefortschritte. Neu Holland das – spätere Australien – tritt hier z.B. noch nicht als Kontinent in Erscheinung. Foto © Jörg F. Müller

Karten im Großformat

Die ordentlichen, gleichgroßen, in helles Pergament mit Goldprägung gebundenen Bände des Großen Atlas sind schon optisch eine Zierde jeder Büchersammlung. Der Atlas mit der Signatur At 5 hingegen, der auf dem Tisch im Lesesaal der Bautzener Bibliothek liegt, erinnert eher an einen gestrandeten Wal: 65 cm hoch, 74 Zentimeter breit, 12 Zentimeter dick und damit jenseits aller gängigen Buchformate, gebunden zwischen zwei dicke mit schwarzem Kleisterpapier bezogene, in der Mitte gebrochene Pappen und mit einem Rücken aus braunem Leder, welches einige Risse aufweist. At 5 wurde nicht ediert, das Werk hat nicht einmal einen Titel, seine Geschichte ist unbekannt. Sicher ist nur: Jemand hat 234 Karten gesammelt und diese zusammenbinden lassen. Vorsichtig schlägt Silke Reiter, die Sachgebietsleiterin Altbestand und Regionalkunde der Bautzener Bibliothek, das Werk auf; von der Wand schaut der Bautzener Bibliotheksstifter zu: Der Arzt Gregor Mättig (1585 – 1650) war kinderlos verstorben und hatte seine umfangreiche Büchersammlung samt Geldmitteln für weitere Buchkäufe der Stadt vermacht, als Grundstock für den Wiederaufbau der 1596 gegründeten und  in den Wirren des 30 jährigen Krieges komplett abgebrannten Bibliothek. 

At 5 umfasst Karten verschiedener Arten und Autoren, die meisten stammen aus dem 18. Jahrhundert. Sie sind unterschiedlich groß, auf verschiedenartigen Papieren gedruckt, manche sachlich-nüchtern gestaltet, andere kunstvoll verziert, wieder andere mit Entfernungstabellen oder erläuternden Texten versehen; auf einer Karte der Schweiz ist die Herstellung von Ziegenkäse dargestellt, auf der "Mappa Geographica Circuli Metalliferi Electoratus Saxoniae" sieht man Bergwerksarbeiten. Alle Karten sind durchnummeriert, einmal oben, einmal unten, mit unterschiedlichen Seitenzahlen. "So hat man immerhin einen gewissen Überblick darüber, wie vollständig die Sammlung ist," sagt Reiter.

Der Atlas birgt viele Geheimnisse

Atlas
Trotz der ungewöhnliche Größe des AT 5, mussten einige Karten geknickt werden um in den Atlas zu passen. Foto © Jörg F. Müller

Wie die Görlitzer verfügt auch die Bautzener Bibliothek über eine ganze Sammlung historischer Atlanten, doch dieses Werk sticht heraus, größer, dicker, zerlesener als alle anderen Bände. Ein echtes Unikat, weshalb es auch für das KEK-Projekt ausgewählt wurde. "Es war nicht zu übersehen, dass dieser Band Hilfe braucht", so Reiter. Hilfe, welche die Bibliothek allein nicht finanzieren konnte: "Ein solches Projekt fällt für unseren Etat völlig aus dem Rahmen." 

Wer auch immer At 5 in Auftrag gab, Spiralbindungen, Plastikhüllen und Leitzorder waren noch nicht erfunden, also wurden die Karten an kleine Laschen geklebt. Was nicht passte, wurde passend gemacht: die Karte der Kurischen Nehrung ist gleich doppelt gefaltet, eine "Charte von Aegypten. Nach astronomischen Beobachtungen, den Reisen von Niebuhr, Norden u.a.m.", gedruckt 1800 in Nürnberg, ist mitten durch Palästina und das Mittelländische Meer gefaltet, beim Nildelta ist die Karte eingerissen. 

"Dieses Buch ist vor allem furchtbar schmutzig", konstatiert Nicole Klinger, Diplom-Restauratorin der Paperminz Bestandserhaltung GmbH in Leipzig, die sich des gestrandeten Wals annimmt. "Wenn man einmal mit dem Schwamm darüberwischt, muss man ihn gleich austauschen." Hinzu kommen Wasserflecken, Fehlstellen und unsachgemäße Reparaturversuche, die zu neuen Rissen geführt haben. All das wird nun schonend behoben. Auseinandernehmen muss Klinger den Atlas dazu nicht. "Die Bindung ist in Ordnung, das kann man so belassen, auch Schimmel gibt es nicht", berichtet sie. Allerdings kann sie so nur ein Blatt nach dem anderen bearbeiten, da jede Seite einzeln unterlegt und gestützt werden muss. Das dauert: At 5 wird das Jahr 2025 wohl in Leipzig verbringen. Den gebrochenen Einband wird Klinger stabilisieren und vielleicht auch manche der historischen Reparaturen lassen, wie sie sind. "Das ist ja nicht mit Klebefilm aus Plastik gemacht, sondern mit den klassischen Materialien, mit Stärkekleber und Dokumenten, die man nicht mehr gebraucht hat, das kann für die Forschung interessant sein", so Klinger. Sicher verpackt wird auch dieses Unikum danach seinen Platz im Magazin finden.

Dann warten die Atlanten in Görlitz und in Bautzen wieder auf Interessierte – und geben Kunde davon, wie man früher die Welt zu Papier gebracht hat.