Jörg Zaun öffnet einen Holzschrank. Dicht an dicht drängen sich darin kleine Glasflaschen mit farbigen Pulvern aneinander. Es riecht nach Lösemitteln und ein wenig nach Phenol. Zaun greift nach zwei Glasgefäßen. "Methylenblau" und "Marineblau" ist auf den Etiketten in feinsäuberlicher Handschrift notiert. Zaun führt durch eine der bedeutendsten Farbstoffsammlungen Europas im historischen König-Bau der Technischen Universität Dresden. Mehr als 20.000 synthetische Farbstoffe lagern hier auf zwei Etagen. Hinzu kommen Proben von rund 1.500 Naturfarbstoffen. Einige sind fast 200 Jahre alt, etwa ein Block indisches Indigo, andere Proben roter Naturfarben stammen von der Weltausstellung in London im Jahr 1851. In einem Mörser liegen leblose, weißgraue Cochenilleschildläuse. Zerrieben verliehen sie früher Stoffen und auch Lippenstiften ein kräftiges Rot. Die Objekte erzählen von der Entstehung der Farbenchemie im Deutschland des 19. Jahrhunderts. 

Die Geschichte der synthetischen Farbstoffe

Damals war Sachsen ein wichtiger Produktionsstandort für Leinen und Spitze in Europa. Im Erzgebirge werkelten viele kleine Baumwollspinnereien. Färben konnte man die Stoffe bis zur Mitte des Jahrhunderts allerdings nur mit Naturfarben. Heimische Bäuer·innen lieferten Krappwurzeln, die getrocknet und je nach Färbeverfahren für ein kräftiges oder blasses Rot der Mode sorgten. Indigo, der heute weltbekannte Jeans- Farbstoff, wurde damals aufwändig aus Pflanzen gewonnen und kam zu Blöcken gepresst per Schiff aus Indien. Teurer als Gold war das Purpur aus der Purpurschnecke, da jedes Tier nur eine winzige Menge Farbstoff lieferte. Einzig die Katholische Kirche konnte sich diese leuchtende Farbe leisten. Päpste und Kardinäle trugen Gewänder aus Purpur. Das einfache Volk indes musste oft mit farbloser Bekleidung auskommen. 

Historische Holzschränke zur Lagerung der Farbstoffsammlung.
Die historische Farbstoffsammlung lagert in Holzschränken im König-Bau der TU Dresden. © Kirsten Lassig B.A. (Hons) Photography, Dresden

Erst der britische Chemiker William Perkin änderte das. Er experimentierte Mitte des 19. Jahrhunderts mit Teer, der als Abfall in großen Mengen bei der Produktion von Koks anfiel, das zur Verhüttung von Eisen nötig war. Er hoffte Chinin zu finden, damals ein begehrtes Mittel gegen Malaria und Fieber. Doch in seinem Reagenzglas bildete sich ein violetter Farbstoff. "Mauvein" nannte er ihn später. Perkin erkannte rasch, dass dieses prächtige Lila das sündhaft teure Purpur ablösen konnte. Mit seiner Entdeckung 1856 begründete er die Farbstoffchemie. Er baute die erste Fabrik für Mauvein, das rasch zur Modefarbe wurde. Im Abstand weniger Jahre synthetisierten Chemiker in Mitteleuropa daraufhin immer mehr sogenannte Teer-Farben. BASF, Bayer, AGFA und Hoechst entstanden – tatsächlich zunächst als reine Farbfabriken. Erst später erwuchs daraus die chemische Industrie mit ihren unterschiedlichen Sparten. 

Von der Geburtsstunde der Farbenindustrie zeugt noch heute ein Fläschchen mit dem Originalpulver von Perkins Mauvein, das 1906 in die Dresdner Sammlung kam. Wer die lang gezogenen Räume mit den dunklen Holzschränken betritt, entdeckt auch eine Tafel, auf der die Synthese des Mauveins chemisch erklärt ist. Im König-Bau der TU Dresden atmet noch immer ein Stück Chemiegeschichte. 

Farbmuster in Fläschchen und Büchern

Die Sammlung wuchs jedoch nicht etwa zur Dokumentation der Historie, sondern zeitgleich mit der aufkommenden Industrie und ihren Innovationen. "Es war damals Usus, dass die chemische Industrie Farbmuster in Form von Fläschchen an die Institute verschickte. Ich erhielt als Studierender auch einige, von denen ich mir mangels Platz aber nur zwei aufgehoben habe", berichtet Chemiker und Archäometrieexperte Robert Fuchs, der an der TH Köln viele Jahre das Labor für die zerstörungsfreie Analyse von Schriftgut, Grafik, Foto und Buchmalerei leitete. Die Industrie nutzte den Kontakt zu den Hochschulen, um junge Absolvent·innen als Beschäftigte zu gewinnen. Besonders interessant war für sie die Technische Bildungsanstalt zu Dresden, aus der später die Technische Universität Dresden hervorging. Schon ab 1850 widmete sich dort Wilhelm Stein als Professor für Technische Chemie den Textilfarben. 

Farbmusterkarte.
Das Musterbuch der KALLE & Co. AG Anilinfarben-Fabrik präsentiert Färbungen auf Kokosfaser. © M. Kretzschmar, TU Dresden

Es waren aber nicht nur kleine Proben mit neuartigen Farbstoffen, die in den chemischen Instituten eintrafen. Die Fabrikanten präsentierten ihre Farben auch in sogenannten Farbmusterbüchern und -karten. Die Unternehmen zeigten ihre Farben auf kleinen Stoffmustern, meist in Form eines Rechtecks in Briefmarkengröße oder eines Garn- oder Faserbündels. Unterteilt nach Baumwolle, Leinen, Wolle, Seide und später auch Kunstfasern stellten die Unternehmen das Kaleidoskop möglicher Farben zur Schau. Damit wollten sie Händler und Textilunternehmen als Kundschaft gewinnen – und an den Hochschulen auf sich aufmerksam machen. Wichtig waren Informationen zur Licht- und Waschechtheit, also wie sehr der gefärbte Stoff am Tageslicht oder beim Waschen ausblich. Eine weitere, heute besonders wertvolle Angabe: Neben dem Stoff steht oft eine Anleitung zum Färben. Historische Färbeprozesse können mit diesen Informationen auch heute noch nachempfunden werden. 

Zwischen 1851 und 2015 kamen 2.250 Farbmusterbücher und -karten in die Dresdner Sammlung. Es sind die Werbematerialien von mehr als 60 Farbstoffherstellern aus Deutschland, der Schweiz, England, Frankreich, den Niederlanden, Russland, Tschechien, Polen und den USA. Sie dokumentieren einen wichtigen Abschnitt der europäischen Textil- und Farbenindustrie, der nicht weniger als den Beginn der Chemieindustrie markiert. Die Sammlung ist mittlerweile Lehr- und Anschauungsort für Schüler·innen und Studierende. Für die Mitarbeiter·innen geht es heute mehr denn je auch um die Erhaltung der Objekte. 

Nur noch drei Farbsammlungen dieser Art erhalten

Denn die Zeit hat vor den Farbmusterbüchern nicht Halt gemacht. Ihre Buchrücken sind teils beschädigt, mitunter drohen Stoffproben und Seiten ganz herauszufallen. Das älteste Musterbuch von 1851 ist sogar noch handgeschrieben. Zwar existieren in Deutschland zwei weitere Farbstoffsammlungen, in Krefeld und an der TH Köln. Aber viele der Materialien in den drei Sammlungen dürften Unikate sein. Nicht selten handelt es sich um den Fundus eines Einzelunternehmens, das die Zeugnisse seines einstigen Portfolios wegwerfen wollte, ehe diese auf Umwegen gerettet wurden und in eine der Sammlungen kamen. Viele der Firmen existieren nicht mehr. Und auch bekannte Unternehmen wie BASF sind heute nicht mehr im Farben- und Textilsegment tätig, das nahezu vollständig nach Indien, China, Bangladesch und Pakistan abgewandert ist. 

Gläser mit Farbproben
Insgesamt umfasst der einzigartige Bestand an Farbstofffläschchen über 9.000 Handelsmarken. © Jörg F. Müller

"Wichtige wissenschafts- und industriegeschichtliche Fragen sind unbeantwortet", sagt Fuchs. Etwa die Frage, wie rein damalige Farbstoffe waren. Schließlich ist mittlerweile bekannt, dass es oft Rückstände und Nebenprodukte sind, die Farben giftig machen können oder den Farbeindruck beeinträchtigen. Fuchs vermutet, dass schon damals etliche gefälschte Produkte in Umlauf waren und deshalb auch in der Sammlung verborgen sein könnten. Sobald ein Hersteller mit einem Farbstoff Erfolg hatte, zogen die anderen rasch mit einem vergleichbaren Produkt nach, berichtet er. "Echt" muss das Imitat deshalb aber nicht gewesen sein. Auch die Frage, welche Farbstoffe zwar an die Dresdener Hochschullehrer gingen, aber nie Bekleidung färbten, weil sie sich nicht durchsetzen konnten, ist industriegeschichtlich bedeutsam. Und zweifelsohne sind die original gefärbten Proben samt Färbeanleitung ein wenig erschlossenes Reservoir, um Fragen des Erhalts und der Textilgeschichte zu klären. 

Farbmuster sind wichtige Quellen für die Wissenschaft

Im BKM-Sonderprogramm 2023 wird knapp die Hälfte der Farbmusterkarten und -bücher der Dresdner Sammlung gereinigt und gesichert, um sie anschließend zu digitalisieren. Die Werke werden damit erstmals einer breiten Öffentlichkeit und einem Fachpublikum aus Kultur-, Geschichts- und Geisteswissenschaften zugänglich gemacht. Regina Klee, Restauratorin an der TU Dresden, schlüpft in schwarze Handschuhe und öffnet behutsam ein Farbmusterbuch. Es ist ein Exemplar der Firma Geigy. Baumwolle, Wolle und Seide sind jeweils mit verschiedenen Farbstoffen gefärbt. Geigy wollte seinen Kund·innen offenbar ein wenig Vorarbeit abnehmen, indem das Unternehmen die Stoffe in die Kategorien "Herren", "Junioren" und "Damen" unterteilte. "Zinnober", "Rhododendron" und "Flieder" empfahl es für Frauen. Männer und Kinder mussten dagegen mit unauffälligeren Tönen wie "Regenblau" und "Kaffee" Vorlieb nehmen. Weitaus fröhlicher und bunter ist die heutige Kindermode. Und heutzutage würde man in einem Katalog wohl den Frauen als Erstes Raum geben und sie nicht nach Männern und Kindern platzieren. Geschlechterforscher·innen hätten an den Musterbüchern jedenfalls manches zu analysieren. Was eine Modefarbe war und für wen, sagt letztlich viel über die jeweilige Zeit aus. Politische und soziale Codierung von Farben lassen sich anhand der Musterbücher studieren. 

Doch vor möglichen Nachforschungen steht die Instandsetzung der Exemplare. Damit der Buchrücken nicht weiter in Mitleidenschaft gezogen wird, bettet Klee das Objekt auf einen Keil und muss es so nicht mehr ganz – bis zu 180 Grad – öffnen. "Die Etiketten lösen sich leider oft ab", bedauert sie. Diese befestigt sie gemeinsam mit Eva Brandt, einer Studierenden der Restaurierungswissenschaften, mit Tylose, einem wasserlöslichen Klebemittel, das sich auch in der Papierrestaurierung bewährt hat. Behutsam kehrt Klee den Falz des Buchs Seite für Seite mit einem Ziegenhaarpinsel aus und reinigt das stark verschmutzte Papier mit einem Polyurethanschwämmchen. Besonders aufmerksam muss sie wegen der eingeklebten Stoffmuster sein, die sie nicht touchieren darf. Sie könnten sich sonst ebenfalls ablösen. Klee entfernt Staub an den Kanten der Stoffe mit einem feinen Luftstrahl und nimmt die Schmutzpartikel mit einem Staubsaugeraufsatz von der Größe eines Feuerzeugs auf. 

Bücher mit Farbproben.
Neben Farben und Stoffen befinden sich auch bunte Knöpfe in der Dresdener Sammlung. © Jörg F. Müller

Doch es gibt auch schwierige Fälle wie das Farbmusterbuch "Diaminfarben" von Leopold Cassella, der Ende des 19. Jahrhunderts eine Farbenfabrik in Frankfurt aufbaute. Die Geschichte des Unternehmens endete jäh, als die Nationalsozialisten im Dritten Reich die Unternehmensnachfolger aufgrund ihrer jüdischen Abstammung zur Aufgabe zwangen und verfolgten. Das Farbmusterbuch zeugt von einem florierenden Unternehmen vor diesem dramatischen Einschnitt. Teilweise haben sich die Muster herausgelöst, erzählt Klee und öffnet eine Seite, in der die Stoffbündel lose liegen. Chemiker·innen könnten die Klebemittel oder Muster analysieren. Anhand der Ergebnisse sowie der Beschreibungen oder Färberezepten könne dann auf den ursprünglichen Platz des Musters geschlossen werden, skizziert Klee. 

Zu den Besonderheiten der Sammlung gehört eine liebevoll erstellte Musterkarte zum Färben von Seifen, wobei die Muster aus farbig geprägtem Papier bestehen, aber einer ovalen Seife zum Verwechseln ähneln. Auch Knöpfe und Pelze wurden gefärbt und von den Farbenherstellern in Musterbüchern präsentiert. Die Farben sollten dabei die natürliche Färbung des Tierhaars diskret unterstreichen. Grelle Farben waren für die Pelzindustrie im 20. Jahrhundert offenbar kein Thema, während Knöpfe aus Kunststoff kräftig leuchteten. "Bei Pelzen und Wollstoffen achten wir natürlich besonders auf Schädlingsbefall", erklärt Klee. Hin und wieder findet sie in den Musterbüchern Verpuppungshüllen von Motten. "Zum Glück haben wir bisher keinen größeren Befall ausgemacht." 

Der Materialmix macht die Restaurierung komplex

Besonders aufwändige Restaurierungen übergibt Klee an ihre Kollegin Sarah Steemers, die auf das Material Papier spezialisiert ist und ihre Werkstätten in Beelitz hat. 14 besonders angegriffene Exemplare erhält sie aus der Dresdner Sammlung. Meist sind die Buchrücken abgelöst. Nicht selten sind die ersten Seiten aus dem Buchblock getrennt, sodass Steemers diese mit Nadel und Faden wieder befestigen muss. In einem Fall ist Farbe über eine Buchseite gelaufen und das Papier dadurch an vielen Stellen gebrochen. Das ist ein typisches Schadensbild: Oft ist es der Rücken eines Buchs, der infolge des häufigen Aufklappens und mit zunehmendem Alter Risse bekommt. Steemers sichert die rissige Seite mit Japanpapier. Besonders beeindruckt sie ein farbenfrohes Leporello aus einer niederländischen Fabrik. Ausgeklappt zeigt sich die ganze Pracht der damaligen Teerfarben an kleinen, sorgsam platzierten und beschrifteten Garnbündeln. Der Geruch nach Chemikalien stört Steemers bei diesem Anblick nicht, so gut gefallen ihr die schönen Farben und die akkurat zugeschnittenen Garnbündel. 

Trockenreinigung eines Farbmusterbuchs.
Um die Farbmusterbücher von Schmutz zu befreien, werden sie von Restauratorin Regina Klee trockengereinigt. © Jörg F. Müller

Die Tücken der Restaurierung von Objekten aus Textil und Papier liegen oft im Detail, weiß Chemiker Robert Fuchs. Die Stoffproben aus den Färbereien wurden für die Werbematerialien nicht eigens ausgewaschen, wie es für Bekleidung üblich war. Ein Überschuss an Farbstoffen und Rückstände aus der Produktion blieben damit im Gewebe. Das hat Folgen für die Musterbücher, denn die Chemikalien greifen mitunter die Papierfasern an. Besonders verdächtig seien schwarze Stoffproben, berichtet Fuchs. Diese Farbe war bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ausgesprochen teuer, denn aus natürlichen Farben gelingt Schwarz nur durch mehrmaliges Überfärben mit verschiedenen Farbstoffen. Entsprechend begehrt war das erste satte synthetische Schwarz, das Anilinschwarz. 

Verschiedene Hersteller brachten es auf den Markt. "Doch es verursacht in Farbmusterbüchern oft Papierfraß", berichtet Fuchs. Denn der Färbeprozess geschieht unter Zusatz von Schwefelsäure, Reste davon bleiben im Stoff. Die aggressive Säure greift nach und nach das Papier darunter und auf der gegenüberliegenden Druckseite an. Es genügt deshalb nicht, die angegriffenen Papiere auf Japanpapier aufzuziehen, wie Fuchs in einer Masterarbeit im Jahr 2017 zeigen ließ. Besonders Anilinschwarz und Alizarinrot reagieren mit dem Papier. Anilinschwarz verbräunt das Papier, ein Phänomen, das sich die Wissenschaftler mit der vorzeitigen Alterung der Papierfasern erklären. Alizarinrot dagegen wandert selbst in das Papier und verfärbt dieses rötlich. Im besten Fall werde das Auswaschen des Stoffmusters nachgeholt, um die Wechselwirkung zwischen Textil und Träger zu vermindern, schildert Fuchs. 

Buch zusammen mit Indigoproben.
Das Buch "Der Indigo und seine Konkurreten" von Dr. Fedor Felsen wurde 1909 veröffentlicht. © Jörg F. Müller

Wie das gelingen kann, hat er ausführlich an einem Objekt aus Papier dokumentiert. Unschöne Risse und Löcher durchsetzten ein Skizzenbuch für ein Fantoccini-Theater von 1852. Das Theater Museum Köln bat Fuchs um Hilfe, um das Werk vor dem Verfall zu retten. Er fand heraus: Der Autor des Buchs hatte als billiges Kolorierungsmittel Indigokarmin verwendet. Es kam ab Mitte des 18. Jahrhunderts in Sachsen in der Textilfärbung auf, weil es viel preiswerter als Indigo war. Wie der Fall zeigt, sind Farbstoffe, die für einen bestimmten Träger gedacht waren, teils auch für andere Materialien verwendet worden. Manche Komponente, die Baumwolle oder Seide verwandelte, färbte demnach auch Papier. Doch Indigokarmin wurde mit reichlich Schwefelsäure hergestellt, die im Laufe der Zeit die Papierfasern zersetzt. Sie lässt sich aber nicht ohne Weiteres mit Wasser aus dem Papier auswaschen, weil Indigo selbst sich in Wasser löst und die Farbe folglich verloren ginge. In aufwändiger Forschungsarbeit fixierte Fuchs‘ Team das Blau zunächst mit einer Hilfssubstanz auf dem Papier und wusch anschließend die Säure aus. 

Sogar wenn zwei Farbmittel einander berühren, etwa weil im geschlossenen Buch zwei gegenüberliegende bunte Objekte Blatt an Blatt liegen, kann es zu unerwünschten Reaktionen kommen. In solchen Fällen setzt Fuchs in der Restaurierung oft auf eigens hergestellte "Opferpapiere", die die schädliche Wechselwirkung unterbinden. "In der Architektur haben wir den Begriff des Opferputzes bei Bauten auf nassem Grund. Dann legt man im Untergeschoss einen stark saugenden Putz an, der alle zwanzig Jahre abgeschlagen und zugunsten des Bauwerks geopfert wird", erklärt Fuchs. In seinem Labor stellten Mitarbeitende unterschiedliche Opferpapiere her, um farbige Objekte voreinander zu schützen. Sie können Gase wie Schwefelwasserstoff, der über die Zeit aus Farbstoffen entweicht, binden und dadurch Verfärbungen auf der gegenüberliegenden Buchseite verhindern. 

Forschung zu präventiven Maßnahmen

Einen präventiven Ansatz verfolgte auch ein KEK-Projekt an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur in Leipzig. Damit es gar nicht erst zu Schäden an Kulturgütern kommt, gingen die Forscher·innen um Physiker Christian Weickhardt der Frage nach, wie Farbstoffe und Pigmente in Büchern vor Zerstörung durch Licht geschützt werden können. Ausgangspunkt waren mittelalterliche Buchbestände der Universitätsbibliothek Leipzig, die häufig in Ausstellungen präsentiert werden. Die Sammlung umfasst rund 3.000 europäische Buchmanuskripte aus dem 7. bis 15. Jahrhundert und ist eine der bedeutendsten hierzulande. Doch wie sehr die Farben der teils kolorierten Handschriften unter einfallendem Kunst- oder Tageslicht leiden können, war selbst Restaurator·innenteam nicht im Detail klar. 

Lichtmessung
Lichtmessungen an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur in Leipzig. © HTWK Leipzig

An diesem Punkt setzten die Forschungen von Weickhardt und seiner Mitarbeiterin Beate Villmann an. "Es ist ein aussichtsloses Unterfangen, die photochemischen Veränderungen an jeder Farbe einzeln chemisch zu untersuchen. Deshalb gingen wir einen anderen Weg", erzählt die Physikerin. Farbstoffe pflanzlichen Ursprungs und Pigmente, die in der mittelalterlichen Buchmalerei üblich waren, wurden gezielt mit Licht definierter Wellenlänge bestrahlt. Mit einem Spektrometer nahm Villmann das zurückgeworfene Licht auf. In regelmäßigen Abständen wiederholte sie die Messung. Wenn Farbstoffmoleküle mit dem Licht reagieren, ändert sich das Muster an reflektiertem Licht und damit das Spektrogramm. "Es gibt Naturfarbstoffe wie Safran, auch Purpur und das Carminrot der Cochenilleschildläuse, die sehr stark mit Licht reagieren. Sie zersetzen sich schneller als andere", schildert die Forscherin. Mitunter reiche ein Tag für eine photochemische Schädigung der Farbe. Nicht immer muss das mit bloßem Auge als Verblassen oder Eindunkeln zu erkennen sein. 

Die Spektrogramme sammelten die Leipziger Forscher·innen in einer umfangreichen Datenbank. Aus den Daten konnten sie ein Computerprogramm zur Vorhersage von Lichtschäden farbiger Objekte entwickeln. Abhängig von der Art der Beleuchtung und deren spektraler Zusammensetzung schätzt sie die Gefährdung eines Farbstoffs oder Pigments ab. "Unsere Ergebnisse haben die Sensibilität der Restaurator·innen dafür erhöht, wie empfindlich farbige Objekte tatsächlich auf Licht reagieren", berichtet Villmann. Mitunter werden bei Ausstellungen Bücher jetzt in zugeschlagener Form präsentiert und eine Kopie der farbigen Seite danebengelegt. Bewegungsmelder dienen dazu, das Kunstlicht nur anzuschalten, wenn sich tatsächlich Besucher·innen dem Exponat nähern. Ansonsten heißt es: Licht aus.