Ganz klar, der Jahresbericht soll Ihnen im Jahresrhythmus die KEK nahebringen. Damit ist aber keineswegs klar, was wir Ihnen stellvertretend für ein ganzes KEK-Jahr präsentieren. Meist arbeiten wir, ob im Büro oder im Homeoffice, am PC. Wir lesen Anträge, schreiben Finanzierungspläne und Konzepte, prüfen Verwendungsnachweise – in Wort und Bild "schwer vermittelbar". Das schriftliche Kulturgut, dessen koordinierte Überlieferungssicherung uns in der KEK Tag für Tag hoch motiviert, haben wir nicht zur Hand, steht nicht bei uns im Regal, sondern liegt in Gedächtniseinrichtungen über ganz Deutschland verteilt. Umso spezieller sind die einzelnen Momente, in denen das Schrift gut selbst Raum und Zeit bestimmt: wenn es für die Reportagen des Jahresberichts in Szene gesetzt wird.
Kapital in Glasfläschchen
Drei Fototermine konnte ich diesmal begleiten. Zuerst ging es nach Dresden in die Historische Farbstoffsammlung der Technischen Universität. Die üppige Fülle der farbiges Pulver enthaltenden Glasfläschchen begeistert. Und es ist aufregend, eine Probe des u. a. bei William Turner für die Darstellung von Licht und Sonne beliebten "Indisch Gelb" in der Hand zu halten, eines historischen Farbstoffs, der wohl aus dem Urin dehydrierter, mit Blättern des tropischen Mangobaums gefütterter Rinder gewonnen wurde. Mindestens so spannend ist es, zu erahnen, welches Kapital hier versammelt ist – allein schon für die Rollen- und Geschlechterforschung: Die einzigartige, 1898 begonnene Sammlung von Farbmusterkarten und Färbemustern bildet die Entwicklung der Farbstoffindustrie ab und erzählt beredt, wie Farben das geltende Stereotyp ausprägten. Für Kinderkleidung beispielsweise waren damals matte Farben wie "Regenblau" und "Kaffee" vorgesehen.
In Greifswald besticht aufs Erste der Ort, an dem sich die 1602 gegründete Bibliothek des Geistlichen Ministeriums befindet: am Ende einer Treppe oben im nördlichen Seitenschiff des Doms St. Nikolai. Noch mehr imponiert, welch außergewöhnliches Engagement diese Kirchenbibliothek erzeugt. Kollegen der Universitätsbibliothek Greifswald bringen ihre Fachexpertise ein, während Ehrenamtliche jahrein, jahraus vor Ort präsent sind. Nicht nur überwachen sie mit großer Akribie das Klima in der Bibliothek, sie bieten auch Führungen an und kennen die einzelnen Schätze an Handschriften und Inkunabeln im Detail. Es ist beeindruckend zu sehen, wie diese Bibliothek, eine der besterhaltenen Büchersammlungen des gesamten Ostseeraums, an ihrem historischen Ort bewahrt wird, um einerseits in der Region das Maximum an Identität zu stiften und andererseits der internationalen Forschung ihre Quellen zu bieten.
Bewegende Patientenakten
Schließlich ging es in das LWL-Archivamt für Westfalen zu den in Münster überlieferten Patientenakten, einer zentralen Gattung für die Erforschung der Medizingeschichte, zwei davon auf dem Cover des Jahresberichts. Wie eine Enkelin die Todesursache ihres Großvaters anhand dessen Akte klärt, berichtet die dritte Reportage. Bei diesem Fototermin bewegte mich besonders die Patientenakte von Paul Wulf, der als Opfer des NS-Regimes zwangssterilisiert wurde. Sein Leben lang engagierte sich Wulf, mittels Archivrecherchen Verbrechen der NS-Zeit aufzuklären. Seit 2007 steht er als überlebensgroße Skulptur in Münster: Sein Mantel dient als Litfaßsäule, auf der die Dokumente aus seiner Aktentasche plakatiert sind, die er immer bei sich trug. Ein lesbarer Paul Wulf. Aber das ist eine andere Geschichte.
So grundverschieden das Schrift gut in Dresden, Greifswald und Münster ist: Es ist les- und erfahrbar, egal, ob Server oder WLAN gerade funktionieren oder nicht. Und mit ihrer physischen Präsenz entfalten die Originale jenseits der reinen Textinformation eine eigene Spruchkraft. Um diese zu erhalten, braucht es eigentlich nur fachgerechte Lagerung und Sicherung der analogen Sammlungen. Für welche dies 2023 gelang, lesen Sie auf einer interaktiven Website und im gedruckten Heft.