Floriane Azoulay, Direktorin der Arolsen Archives, und Archivleiter Christian Groh im Gespräch über den tiefgreifenden Wandel der Institution und ihre Rolle als Hüterin und Vermittlerin wichtiger Dokumente der NS-Zeit.

KEK: 2019 haben Sie den International Tracing Service (ITS), wie er 70 Jahre lang hieß, in Arolsen Archives – International Center on Nazi Persecution umbenannt. Außerdem haben Sie erstmals eine größere Ausstellung über die Arbeit des Suchdienstes eröffnet. Dem Namenswechsel vorangegangen ist eine über 10-jährige Zeit des tiefgreifenden Wandels Ihrer Institution. Was sind die wichtigsten Veränderungen?

Azoulay: Seit dem Jahr 2007 haben wir uns der Öffnung unseres Archivs verschrieben: ein andauernder Prozess, denn wir waren bis dahin weithin unzugänglich für die Öffentlichkeit. Jetzt haben wir permanent Forscherinnen und Forscher zu Gast, treffen aber auch häufig hier in Bad Arolsen mit den Angehörigen betroffener Familien zusammen, die ihre Dokumente auf Wunsch im Original sehen können. Weltweit sind wir unterwegs, um unseren Dokumentenschatz bekannter zu machen. Wir wollen als Dienstleister unser Mandat besser ausfüllen. Neben dieser Gründungsaufgabe fühlen wir uns heute als professionelles Archiv: Konservieren und Restaurieren sind als wichtige Aufgaben hinzugekommen. Zugänglich machen heißt für uns, das hier in den Unterlagen vorhandene Wissen zu vermitteln. Mit Bildungsprogrammen wollen wir Menschen zur Nutzung inspirieren. Mit Forschung wollen wir ungenutzte Potentiale des Archivs aufdecken. Drittens dienen wir weiter intensiv den Interessen der Familien der Opfer, denn wir haben immer noch rund 16.000 private Anfragen im Jahr. Die Natur der Anfragen hat sich verändert. Wir treffen uns und korrespondieren nicht mehr direkt mit den Opfern des Nationalsozialismus, sondern vermehrt mit deren Enkeln und Urenkeln. Die haben ganz andere Fragen an uns. Für uns geht es in Zukunft zentral um die Wahrheit, die wir im Archiv aufbewahren. Wir leben in einer Zeit, in der es bald keine Zeugen mehr gibt und leider deutlich mehr Holocaust-Revisionismus existiert. Deshalb müssen wir die Beweise hier bewahren, um zu gedenken, zu erinnern und zu erforschen.

KEK: Wie gehen Sie mit dieser neuen, auch politischen Rolle in der alltäglichen Arbeit konkret um?

Azoulay: Es ist ein dynamischer Prozess, der nicht nur uns allein betrifft. Wir sehen in allen europäischen Archiven einen Wandel der Institutionen, des Selbstverständnisses und damit übrigens auch einen grundlegenden Wandel der Berufsbilder in Archiven. Wir warten nicht mehr im Lesesaal, dass jemand zu uns kommt. Wir zeigen unsere archivalischen Schätze nicht nur in Ausstellungen der breiten Öffentlichkeit, sondern zeigen Präsenz an Orten, an denen wir ein Publikum erreichen, das sich nicht primär für Geschichte interessiert. Wir übernehmen aktiv die Rolle, die Demokratie zu schützen, wenn wir Geschichten aus unseren Akten vermitteln. Konkret ist es natürlich eine Herausforderung, die Balance zu finden zwischen akkurater wissenschaftlicher Arbeit und wirksamer Vermittlung, bei der wir auch emotionale Geschichten erzählen müssen. Denn über einen persönlichen Bezug erreichen wir ein breiteres Publikum.

Karteikarten
Die Zentrale Namenkartei der Arolsen Archives steht am Beginn jeder Recherche. © Arolsen Archives, Johanna Groß

Groh: Bei uns ist der politische Charakter offensichtlicher, da unser Thema leider wieder an Brisanz gewonnen hat. Archive sind grundsätzlich politische Institutionen. Denn sie kontrollieren Regierungshandeln, indem sie es
transparent machen, Informationen zur Verfügung stellen und das, was passiert, aktiv dokumentieren. Archive übernehmen auch Unterlagen aus jüngerer Vergangenheit und müssen dabei oft zukunftsgerichtet entscheiden, was wichtig und relevant sein wird. Ein Beispiel: Welche Opfer wurden von der Politik anerkannt? Eine Bundestagsdebatte in letzter Zeit beschäftigte sich damit, dass die Opfergruppen der sogenannten Asozialen und Berufsverbrecher durch alle Maschen gefallen sind – übrigens für lange Zeit auch in unserer Organisation.
Zur Entschädigung der Zwangsarbeiter hat die Debatte in Deutschland ja auch erst spät begonnen. Gerade in den USA sind Nachkommen oft erstaunt, dass es bei uns Spuren ihrer Vorfahren beispielsweise aus Polen gibt. Wir weisen deshalb darauf hin, dass sich 75% unserer Bestände auf politisch Verfolgte des NS-Regimes, auf verfolgte Sinti und Roma und auf Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter bezieht.

KEK: Der Nachkriegsbestand Ihres Archivs ist größer als die Akten aus der NS-Zeit, da der ITS systematisch gesammelt hat. Wie aktiv übernehmen Sie heute noch Bestände?

Azoulay: Zwecks Dokumentation der NS-Verfolgung hatten sich ehrenamtliche Initiativen, wie Vereine ehemaliger Deportierter, gebildet. Diese haben vielerorts in Datenbanken dokumentiert, welche Opfer in den Dörfern der Umgebung zu beklagen waren. Deren Arbeit wird heute oft nicht mehr weitergeführt: Was passiert mit den Datenbanken, gehen die Informationen verloren? Hier bieten wir die Übernahme an. Es gab jahrzehntelang Versuche, diese Informationen zu verbinden, beispielsweise beim Thema Euthanasie. Jetzt haben wir tatsächlich die Chance, diese wichtigen Daten effektiv zu bündeln.

Groh: Hier können wir mit unserer langjährigen Digitalisierungserfahrung die notwendigen Ressourcen anbieten. Gerade die lokalen Daten sind besonders wertvoll und kommunale Archive können diese nicht immer übernehmen. Wir wollen diese Informationen retten und damit auch das private Engagement abseits der wissenschaftlichen Erfassung würdigen. Dabei gehen wir gerne eine Kooperation ein: Wir digitalisieren
die fremden Bestände und sichern uns im Gegenzug die Nutzungsrechte. Denn wir müssen hinaus in die Welt mit dem, was wir hier haben. Umso mehr zusätzliche Informationen wir anbieten können, desto besser können wir ein Gesamtbild herstellen, ob nun für Ausstellungen oder auf den digitalen Kanälen.

KEK: Vor Kurzem sind Sie mit einer großen Zahl von Digitalisaten online gegangen, alle Dokumente sind dabei ohne Zugangsbeschränkung einsehbar. Warum haben Sie sich für die maximale Transparenz entschieden? Wie verändert die weltweite Verfügbarkeit der Daten Ihre Arbeit und was sind die Reaktionen gerade auch hinsichtlich Datenschutz und Persönlichkeitsrechten?

Azoulay: Wir haben uns in den letzten Jahren auf die digitale Präsenz konzentriert und sind mittlerweile mit 13 Millionen Dokumenten online gegangen. Vor dreieinhalb Jahren gab es durchaus Bedenken wegen des Datenschutzes und eine starke Skepsis, ob wir tatsächlich alles online stellen sollten, auch aus Angst vor Missbrauch der Dokumente. Eigentlich haben wir fast nur positive, dankbare Reaktionen aus der ganzen Welt erhalten, dass endlich Spuren von Angehörigen zu finden sind. Und auch die Forschung begrüßt, dass sie unbegrenzt Zugang zu den Dokumenten hat. Interessant ist, dass die digitale Verfügbarkeit nicht die analoge Erfahrung ersetzt. Im Gegenteil triggert es bei unseren Nutzerinnen und Nutzern das Interesse für das Archiv und die Bestände. So vernetzen wir uns auf Konferenzen und machen Ausstellungen, vielerorts in Kooperation mit anderen Institutionen. Wir haben eine Wanderausstellung konzipiert: #StolenMemory ist eine Plakatausstellung, die wir bald in Deutschland an 20 Stationen im ländlichen Raum auf Marktplätzen zeigen werden und die wir mit angepassten Plakaten auch in verschiedenen Ländern ausstellen. Dort ist das Interesse groß und wir wollen auch physisch präsent sein.

Christian Groh Floriane Azoulay
Christian Groh und Floriane Azoulay. © Arolsen Archives, Johanna Groß

KEK: Welche Kooperationen haben sich bewährt und welche streben Sie noch an?

Groh: In Verträgen sind wir mit dem Bundesarchiv als Partner verbunden, werden im Internationalen Ausschuss und auf Arbeitsebene beraten. Insbesondere bei der Online-Stellung war die Expertise wichtig, da wir viele in der Vergangenheit kopierte, verfilmte, fotografierte und digitalisierte Unterlagen aus anderen Archiven in unsere Bestände integriert haben – ganz unklassisch, was andere Archive nicht machen würden. Oftmals können wir die Herkunftsorte der Bestände aber nicht rekonstruieren, weil wir sie neu strukturiert und sortiert haben. Wir versuchen, die Bestände zu identifizieren, klären die Rechte und tauschen Erschließungsdaten aus. Wir hatten früher den Auftrag, alles zu sammeln und zu dokumentieren. Das ist der große Vorteil der Arolsen Archives: Hier finden Sie, was Sie sich sonst aus unterschiedlichen Gedenkstätten, Landes- und Kommunalarchiven und internationalen Archiven zusammensuchen müssen. Das ist eine Stärke, die wir in zukünftigen Kooperationen
ausbauen wollen.

KEK: Auf der einen Seite öffnen Sie die Institution für Besucherinnen, Besucher und die Forschung. Auf der anderen Seite wandeln Sie sich von einer Auskunftsstelle zu einem professionellen Archiv. Wie gehen Sie damit um, dass Sie sich nun intensiv um den Originalerhalt kümmern müssen?

Groh: Von Anfang an war es der Auftrag, zu dokumentieren und zu sammeln. Unklar war, wie lange es die Organisation geben wird. Deshalb hatte sich auch kein Bewusstsein entwickelt für den Wert und dafür, wie man das Archiv über die Jahrzehnte hinaus bewahrt. Natürlich wurde sehr lange intensiv mit den Dokumenten gearbeitet. Sie tragen viel mehr Gebrauchsspuren als Archivgut in anderen Institutionen. Das Papier hat zudem eine schlechte Qualität. Bereits ab 1998 wurde digitalisiert, um Arbeitsprozesse zu beschleunigen. Heute hilft uns das, weil das Papier nicht mehr angefasst wird. Spätestens mit der Anerkennung als UNESCO-Weltdokumentenerbe 2013 wurde die Aufgabe der Bewahrung fundamentaler Auftrag unserer Institution. Weil das sehr spät war, sind die Gebrauchsspuren und eine nicht fachgerechte Lagerung die großen Herausforderungen für uns. Zwar wurde zu Beginn der 2000er-Jahre erstmals neu verpackt, aber wir haben immer noch historische Unterlagen, die schlecht oder gar nicht verpackt sind. Viele Dokumente müssen zunächst einmal fit für Digitalisierung und Neuverpackung gemacht werden. Da haben wir einen großen Nachholbedarf im Vergleich zu Archiven, die den Bewahrungsauftrag von Anfang an hatten.

Palette mit Akten
Im Magazin lagern auch "Care and Maintenance"-Akten aus Österreich. © Arolsen Archives, Frederic Bozada

KEK: Nun haben Sie gerade einige dringende Projekte abgeschlossen...

Groh: Um ein Beispiel aus den Restaurierungen mit Unterstützung der KEK zu nennen: Unsere Nachkriegsbestände sind größer als die Bestände vor 1945. Der Bestand der Care and Maintenance-
Akten dokumentiert, wie Überlebende, Verfolgte und Geflüchtete nach dem Krieg bei der International Refugee Organization (IRO) um Unterstützung bei der Emigration baten. Sie befanden sich weit weg von zu Hause, waren vielleicht die einzigen Überlebenden der Familie, wollten nicht in Deutschland bleiben, im Land der Täter, wollten auch nicht zurück nach Polen oder in die Sowjetunion, weil sie sich dort wieder bedrängt fühlten. Sie wollten weg: Die IRO hat geprüft, ob sie einen Anspruch auf Emigrationshilfe hatten. Dazu wurden die Stationen von Flucht und Inhaftierung nachvollzogen. In den Akten spiegeln sich in den verzeichneten Dialogen, wie Menschen Chancen für ihr zukünftiges Leben ausgehandelt haben. Diese Akten sind von großer Brisanz, weil es auch heute wieder so ist, dass Menschen versuchen, Chancen zu schaffen, sich ein neues Leben aufzubauen. Dann hatten wir einen Bestand an Karten und Plänen für die dringende Restaurierung identifiziert, die auch für die historische Forschung von enormer Bedeutung sind. Dazu gehören Lagepläne von Konzentrationslagern, die die SS selbst gezeichnet hat oder hat zeichnen lassen. Es gehören aber auch Karten dazu, die der ITS Ende der 1940er- bzw. Anfang der 1950er-Jahre gezeichnet hat, von Todesmärschen aus den Konzentrationslagern und von Grabanlagen, die entlang dieser Wege entstanden sind. Diese Bestände waren restauratorisch komplett unbehandelt und unverpackt. Heute lagern die restaurierten Zeichnungen, die früher aufgehängt waren, plan
in unserem Archiv.

KEK: Sie haben die umfangreichen Emigrationsakten erwähnt und den großen Teil der Nachkriegsbestände. Was können diese von den Überlebenden und ihrem neuen Leben erzählen?

Azoulay: Wir möchten vermitteln, dass es in diesem Archiv nicht nur um die schreckliche Vergangenheit und Tod geht. Man muss davon erzählen, was die Menschen alles geleistet haben, wie das Überleben in den Camps für Displaced Persons war, wie dort geheiratet wurde, wie Kinder geboren wurden, von Emigration und
erfolgreichen Biografien. Wir wollen Familiensagas über die Zeit der Verfolgung hinaus weiterschreiben. Wir können aber auch Vergleiche zu heute ziehen. Ich denke da beispielsweise an Menschen, deren Heimat durch die Umweltzerstörung bedroht ist oder die aus politischen Gründen flüchten müssen. Bei unserer Arbeit mit Jugendlichen erlebe ich, dass wir über persönliche Geschichten viel mehr erreichen. Wenn wir beispielsweise das Schicksal eines 14-jährigen Jungen aus Nordhessen in der NS-Zeit erzählen, haben wir plötzlich die Aufmerksamkeit der Jugendlichen. Unsere Akten ermöglichen es uns, diese Geschichten wie durch ein Teleskop oder ein Mikroskop zu erzählen. Ich betone immer, dass wir ein lebendiges Archiv sind, denn jede Anfrage, die wir heute bekommen, wird Teil des Archivs! Täglich erzählen Menschen hier ihre Geschichte. So können wir nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Zukunft darstellen.