Wie trieb man im Altertum Steuern ein, wie führte man Krieg und wie liefen Gerichtsverhandlungen ab? Wer glaubt, nur Lyrik, Drama und große Epen hätten die Zeiten überdauert, irrt: Auch viele ganz alltägliche Aufzeichnungen haben sich auf dem Papiervorgänger Papyrus erhalten, einem der ältesten Beschreibstoffe der Menschheit. Vor etwas mehr als 100 Jahren fand ein deutsches Grabungsunternehmen in Oberägypten eine ganz besondere Sammlung von Schriftstücken: das sogenannte Apollonios-Archiv. "Die Bremer Papyri geben Einblicke in den sonst unbekannten Alltag eines ägyptischen Verwaltungsbeamten aus dem 2. Jahrhundert n. Chr.", erzählt Dr. Maria Hermes-Wladarsch.

Wer löst das Rätsel um die grauweißen Beläge? 

Die Leiterin der historischen Sammlungen an der Staats- und Universitätsbibliothek Bremen hat ein Forschungsprojekt um die fast 2.000 Jahre alten Schriftstücke in Bremen und Leipzig betreut: Aus historischen Verglasungen wurden die 84 wertvollen Papyri der Bremer Sammlung gelöst, auch um das Rätsel um jene grauweißen Beläge zu lösen, die die Schriftstücke schwer lesbar machten. Hermes-Wladarsch fasziniert an der Bremer Sammlung besonders, dass man in den Papyri nicht nur die Berichte des Beamten Apollonios über Steuererhebung und Rechtsstreitigkeiten fand, sondern auch persönliche Briefe. Inständig fleht ihn beispielsweise seine Ehefrau in den erhaltenen Korrespondenzen an, er solle doch lieber andere in den Krieg ziehen lassen, statt selbst zu kämpfen.

Papyrus Verglasung
In den alten Verglasungen sind die grauweißen Beläge deutlich erkennbar. © Jörg Graf, UB Leipzig

Der Name "Apollonios-Archiv" ist natürlich eine moderne Bezeichnung. "Der Verwaltungsbeamte des alten Ägyptens hat die Papyri damals nicht archiviert, sondern wahrscheinlich einfach entsorgt", sagt Hermes-Wladarsch. Heute sind die Dokumente dank der Konservierung im trockenen ägyptischen Wüstensand erhalten. Wiedergefunden hat sie dort 1902 der deutsche Ägyptologe Dr. Ludwig Borchardt (1863–1938) in einer Grabung, aus der er einen Großteil der Funde – insgesamt 84 Papyri – an Hermann Melchers (1842–1918) verkaufte. Über den Bremer Kaufmann gelangte das Konvolut an die Staatsbibliothek Bremen, eine Vorläuferinstitution der heutigen Staats- und Universitätsbibliothek Bremen. Weitere Teile der Ausgrabung gingen an Bibliotheken in Gießen, Bonn und Florenz.

Raue Sitten auf dem ägyptischen Papyrusmarkt

So wie das Apollonios-Archiv sind damals viele zusammenhängende Papyruskonvolute auf mehrere Standorte in Deutschland verteilt worden. Eine übliche Praxis, denn um die jahrtausendealten Schriftstücke entbrannte Ende des 19. Jahrhunderts ein Konkurrenzkampf unter den sammelnden Museen und Bibliotheken. Jeder wollte die größte und beste Sammlung zusammentragen und so tummelten sich viele deutsche Institutionen auf dem ägyptischen Papyrusmarkt. Gewöhnliche Händler nutzten ebenso wie Grabräuber die Gunst der Stunde: "Die eigentlich zusammengehörenden Papyri wurden nicht nur an verschiedene Interessenten verkauft. Teilweise zerrissen die Händler einzelne Stücke sogar, um den Gewinn zu maximieren", erzählt Jörg Graf, Leiter der Restaurierungswerkstatt an der Universitätsbibliothek in Leipzig. Mit seiner Werkstatt beteiligte er sich an dem Forschungsprojekt um die Bremer Papyrussammlung und führte im Anschluss die Neuverglasung durch.

Jörg Graf
Vorsichtig löst Jörg Graf einen Papyrus aus seiner alten Verglasung. © Jörg F. Müller

Erstmals zwischen Fensterglas eingeschlossen wurden die zerbrechlichen Schriftstücke der Bremer Sammlung 1902 von Hugo Ibscher (1874 –1943), dem Begründer der Papyrusrestaurierung. Seine Verglasungsmethode war für mehr als 100 Jahre Standard, deshalb findet man diese Art der Aufbewahrung auch in anderen Papyrussammlungen. Gemein ist ihnen allen heute das Phänomen der grauweißen Beläge. Zuletzt 2009 verglaste man in Leipzig Papyri neu. "Schon heute sind diese Stücke leider wieder betroffen und zeigen die charakteristischen Beläge", berichtet Restaurator Graf. Lange hatte man als Verursacher der Ablagerungen nicht das Fensterglas, sondern die Papyri selbst in Verdacht. Doch in der Leipziger Sammlung wunderte sich Graf schon länger über das unterschiedliche Ausmaß der Beläge an den Objekten. Auch fragte er sich, warum sie in einer Verglasung auf nur einer der beiden Glasplatten auftraten. Stammten sie vielleicht aus einer Reaktion zwischen Glas und Papyrus? 

Komplexe Reaktionen hinter Glas

Grafs These wurde nun in einem interdisziplinären Forschungsprojekt untersucht, gefördert in einem zweijährigen KEK-Modellprojekt. Die Staats- und Universitätsbibliothek Bremen (SuUB), die Universitätsbibliothek Leipzig (UB) und die Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig (HTWK) wollten herausfinden, welchen Ursprung die Ablagerungen der Bremer Sammlung tatsächlich hatten. Für das Forschungsprojekt verschickte man die 84 Bremer Papyri in die UB Leipzig, entfernte in der dortigen Restaurierungswerkstatt die alten Verglasungen und reinigte die Papyri. An der HTWK untersuchte ein Forschungsteam um die Physikerin Dr. Beate Villmann und die Chemikerin Evelyn Schlattner alle bei der historischen Verglasung der Papyri verwendeten Materialien. Analysiert wurden auch die von Restaurator Hugo Ibscher 1902 verwendeten Trägerpappen und der Klebstoff. Die Forscherinnen und Forscher konnten Jörg Grafs These bestätigen und machten eine Reaktion zwischen Papyrus und Glas als Ursprung der grauweißen Beläge aus.

Papyrus Sammlung
Im Magazin werden die neu verglasten Schriftstücke stehend gelagert. © Jörg F. Müller

Die bisherigen Lagerungsumstände der Papyri begünstigten diesen Vorgang: Für Ausstellungs- und Forschungsprojekte wurde die Bremer Sammlung häufig transportiert und war dadurch schwankenden Raumklimata ausgesetzt. "Ist die Luftfeuchtigkeit rund um die Papyri zu hoch, beginnen sich Natrium-Ionen
aus dem Glas zu lösen", erklärt Beate Villmann. Sinkt die Luftfeuchtigkeit im Anschluss wieder, reagiert das Natrium aus dem Glas mit Chlorid- bzw. Nitrat-Ionen aus dem Papyrus. Es entstehen Salzkristalle. Wiederholt man diesen Prozess beispielsweise durch häufigen Raumwechsel, lagern sich mehrere Schichten dieser Kristalle übereinander ab. Wechseln einzelne Stücke der Sammlung häufiger den Raum als andere, sind sie natürlich in anderem Ausmaß von Ablagerungen betroffen. "Die unterschiedliche Betroffenheit der Objekte erklärt sich aber
auch durch die variierende Qualität der historischen Gläser", ergänzt Villmann. "Je besser die Qualität des Glases, desto weniger Natrium löst sich aus dem Material." 

Für die Neuverglasung der Papyri nach Abschluss der Untersuchungen verwendete Jörg Graf deshalb Borosilikatglas. Dieses Spezialglas ist nicht nur von höherer Qualität, vor allem ist auch sein Natriumgehalt um ein Vielfaches geringer als im Falle von üblichem Fensterglas. Da trotzdem immer die Gefahr einer Reaktion bestehe, rät Villmann mit Blick auf die zukünftige Unterbringung dringend, bei der Lagerung von Papyri auf eine konsequente Klimatisierung mit mäßigen Temperaturen von annähernd 20°C und einer relativen Luftfeuchte deutlich unter 70%, bestenfalls aber nach bestehender DIN-Norm um 50%, zu achten.

Originale Spuren mit auratischer Aufladung

Frisch verglast erscheinen die Papyri heute in neuem Glanz und in vollständiger Form: Bei der Neuverglasung verzichtete man in Bremen auf die ursprünglich verwendeten Trägerpappen. Diese verdeckten jahrzehntelang ganze Textabschnitte. "Sogar den 2.000 Jahre alten Fingerabdruck eines Schreibers entdeckte man, als man die Pappen entfernte", erzählt Maria Hermes-Wladarsch begeistert und ergänzt: "Solche originalen Spuren verleihen der Sammlung eine geradezu auratische Aufladung." Nach der Reinigung gaben die Papyri außerdem bisher verdeckte Adresszeilen auf Apollonios' Briefen und die historischen Faltungen der Fragmente preis. Gelagert werden die Papyri heute einzeln in eigens angefertigten Schubern mit sogenannten Grafikbetten. In Bremen übernahmen die Restauratorin Christiane Wischmann und der Restaurator Thomas Steinle diese Unterbringung. Mit der Bremer Sammlung arbeitet momentan ein altphilologisches Forschungsprojekt an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien, in dem das gesamte Apollonios-Archiv neu untersucht wird.

Papyrus Verglasung
Die neuen Papyrusverglasungen sind viel weniger anfällig für chemische Reaktionen. © UB Leipzig

Die Forschungsergebnisse, die aus der Bremer Sammlung gewonnen werden konnten, haben bereits Einfluss auf andere Papyrussammlungen. Die Universitätsbibliothek in Leipzig nahm die neuen Erkenntnisse zum Anlass, ihre Papyri ebenfalls neu zu verglasen. Gefördert in einem KEK-Modellprojekt 2018, ist man nun weiter dabei, tausende Papyrusfragmente aus ihren alten Verglasungen zu entfernen, sie zu säubern, in Borosilikatglas einzuschließen und neu zu digitalisieren. Viel Arbeit liegt vor der Restaurierungswerkstatt, handelt es sich doch um 2.100 besonders fragile Objekte. Online sind alle hier erwähnten Sammlungen bereits heute verfügbar: Im sogenannten Papyrus-Portal können Forscherinnen und Forscher alle Schriftstücke digital einsehen. Die neu digitalisierten Objekte werden im Laufe des Projekts sukzessive ergänzt. Selbstverständlich stehen die Papyri für Forschungsvorhaben weiterhin im Original zur Autopsie zur Verfügung.